„Nein?“
„Fahr weiter!“
„Wir haben Platz genug im Wagen“, sagte ich.
„Ich möchte keine Zeit verlieren.“
„Herr im Himmel, Oliver, der Knabe ist harmlos! Und hier draußen fährt höchstens ein Auto pro Stunde an ihm vorbei. Stell dir vor, du wärst in seiner Lage …“
„Woher weißt du, daß er harmlos ist?“ fragte Oliver. Mittlerweile war der Hippie kaum noch dreißig Meter entfernt von der Stelle, wo ich angehalten hatte. „Vielleicht gehört er zu der Familie von Charles Manson“, fuhr Oliver rasch fort. „Vielleicht ist es sein Hobby, Jungs aufzuschlitzen, die ein weiches Herz gegenüber Hippies haben.“
„Oh, Mann! Wo hört der Wahnsinn eigentlich bei dir auf?“
„Setz den Wagen in Bewegung“, sagte er mit seiner verhängnisvoll kühlen Prärie-Stimme, seiner Der-Donner-ist-im-Anmarsch-Stimme, seiner Vor-der-Dämmerung-bist-du-aus-dieser-Stadt-verschwunden-Nigger-Stimme. „Ich mag ihn nicht. Ich rieche ihn schon von weitem. Ich will ihn nicht im Wagen haben.“
„Ich bin jetzt der Fahrer“, sagte ich, „und ich werde die Entscheidungen treffen über …“
„Fahr los“, sagte Timothy.
„Du auch?“
„Oliver will ihn nicht, Ned. Du wirst ihn doch Oliver nicht gegen seinen Willen aufdrängen wollen, oder …“
„Mein Gott, Timothy …“
„Davon abgesehen ist es mein Auto, und ich will ihn auch nicht. Setz den Fuß aufs Gas, Ned.“
Vom Rücksitz kam Elis Stimme sanft und perplex: „Einen Moment mal, Jungs. Ich glaube, wir müssen hier mal eine Sache klären. Wenn Ned will …“
„Wirst du nun fahren?“ sagte Oliver, dem Schreien so nahe, wie man das gar nicht von ihm gewohnt war. Über den Rückspiegel sah ich ihn an. Sein Gesicht war rot angelaufen und schweißüberströmt. Eine Ader hatte sich auf erschreckende Weise auf seiner Stirn herausgebildet. Das Gesicht eines Irren, eines Psychopathen. Er schien zu allem fähig. Ich wollte wegen eines trampenden Hippies keine Auseinandersetzung führen. Traurig schüttelte ich den Kopf, trat aufs Gaspedal, und gerade, als der Hippie nach der Tür an Olivers Seite griff, raste der Wagen aufheulend los und ließ ihn allein und erstaunt in einer Abgaswolke zurück. Zur Ehre des Hippies muß allerdings gesagt werden, daß er keine Faust gereckt und auch nicht hinter uns ausgespuckt hat. Er ließ einfach die Schulter sinken und lief weiter. Möglicherweise hatte er die ganze Zeit mit einem blöden Scherz gerechnet. Als ich den Hippie aus den Augen verloren hatte, sah ich wieder zu Oliver. Sein Gesicht war ruhiger geworden, die Ader verschwunden, die Röte zurückgegangen. Aber immer war da noch so eine befremdlich frostige Starrheit bei ihm. Wilde Augen, ein Muskel zuckte auf seiner schönen Knabenwange. Erst nach zwanzig Meilen auf dem Highway knisterte die Spannung nicht mehr in unserem Wagen.
Schließlich sagte ich: „Warum hast du das getan, Oliver?“
„Was getan?“
„Mich gezwungen, den Hippie zu verarschen.“
„Ich will endlich ans Ziel unserer Reise“, sagte Oliver. „Hast du schon einmal erlebt, daß ich einen Anhalter mitgenommen habe? Tramper bedeuten immer Ärger. Sie bedeuten immer Verzögerungen. Du hättest ihn noch über eine Seitenstraße bis zu seiner Kommune gebracht ein oder zwei Stunden Verzögerung.“
„Das hätte ich nicht. Davon abgesehen hast du dich über seinen Geruch beschwert. Du hattest Angst, erstochen zu werden. Was sollte das, Oliver? Hast du wegen deiner langen Haare nicht genug paranoide Reaktionen erlebt?“
„Vielleicht habe ich nicht logisch gehandelt“, sagte Oliver, der nie anders als logisch in seinem ganzen Leben gedacht hat. „Vielleicht bin ich zu aufgeregt, will zu sehr vorankommen, daß ich Sachen sage, die ich gar nicht so meine“, sagte Oliver, der nie anders sprach, als lese er von einem Manuskript ab. „Ich weiß es auch nicht, ich hatte nur in der Magengegend so ein komisches Gefühl, das sagte, wir sollen ihn nicht mitnehmen“, sagte Oliver, der nur Unbehagen in der Magengegend hatte, wenn er auf die Toilette mußte. „Tut mir leid, wenn ich dir zu nahegetreten bin, Ned“, sagte Oliver.
Nach zehnminütigem Schweigen sagte er: „Ich glaube, wir sollten eine feste Regelung treffen. Von jetzt an bis zum Ende der Reise werden keine Anhalter mitgenommen, okay? Keine Anhalter.“
18. Kapitel
Eli
Sie hatten ganz richtig gehandelt, dieses erschütternde und runzelige Terrain als Standort für das Schädelhaus auszusuchen. Altertümliche Kulte benötigen einfach eine Umgebung von Geheimnis und romantischer Abgelegenheit, wenn sie sich gegen die krachenden, klingenden Resonanzen des skeptizistischen, materialistischen zwanzigsten Jahrhunderts behaupten wollen. Eine Wüste ist dafür ideal. Hier ist der Himmel auf schmerzhafte Weise blau, der Boden besteht nur aus einer dünnen, verbrannten Kruste über einem Felsmassiv, die Pflanzen und Bäume sehen verdreht aus, dornig und bizarr. An Orten wie diesem scheint die Zeit stillzustehen. Hier können die alten Götter gedeihen. Die moderne Welt kann hier nicht eindringen und nichts durcheinanderbringen, wir überleben die alten Götter, und die alten Gesänge tönen gegen den Himmel, unbehelligt vom Gebrüll des Verkehrslärms und dem Klappern der Maschinen. Als ich Ned von diesem Eindruck erzählte, widersprach er. Die Wüste sei nur eine Theaterkulisse und hohl, sagte er, etwas zum Campen. Und für solche Überbleibsel aus dem Altertum wie die Hüter der Schädel, sei der beste Platz das Herz einer geschäftigen Großstadt, wo der Kontrast zwischen ihrer Art und unserer Welt am deutlichsten werde. Zum Beispiel ein unauffälliges Haus im Osten, 63. Straße, wo die Priester selbstgefällig ihren Riten nachgehen könnten, zwischen Kunstgalerien und Hundesalons. Eine weitere Möglichkeit, schlug er vor, sei ein einstöckiges Gebäude aus Stein und Glas, eine Fabrikhalle auf einem Vorort-Industriegelände, wo vorher Klimaanlagen und andere Büroausstattungen hergestellt worden sind. Kontrast ist alles, sagte Ned, das Mißverhältnis die Essenz. Das Geheimnis der Kunst liege darin begründet, einen sinnvollen Widerspruch herauszuarbeiten, und was sei die Religion anderes als eine Kunstkategorie? Aber ich glaube, Ned wollte mich wie gewöhnlich auf den Arm nehmen. Wie dem auch sei, ich kann mit seinen Thesen von Kontrast und Gegensätzlichkeit nicht warm werden. Diese Wüste hier, dieses trockene Ödland, ist der ideale Standort für das Hauptquartier derer, die nicht sterben werden.
Als wir von New Mexico in den Süden Arizonas gelangten, ließen wir damit die letzten Spuren des Winters hinter uns. Noch in Albuquerque war die Luft frisch, sogar kalt gewesen, aber hier sind die klimatischen Verhältnisse einfach angenehmer. Das Land senkte sich, als wir an der mexikanischen Grenze nach Phoenix abbogen. Die Temperatur stieg sprunghaft an, von 10 auf 25 Grad oder sogar noch höher. Die Berge wurden niedriger und sahen aus, als seien sie aus Bröckchen rotbrauner Erde gemacht, die zu Klumpen zusammengepreßt und mit Klebstoff überzogen worden waren. Ich stellte mir vor, ich könnte mit dem Finger ein tiefes Loch in solche Erde bohren. Sanfte, verletzliche, abfallende Hügel, die praktisch nackt waren. Wie eine Mars-Landschaft. Auch die Vegetation war hier anders. Statt an dunklen Unterholzflächen und knorrigen, kleinen Pinien fuhren wir jetzt an ausgebreiteten Riesen-Kakteen vorbei, die wie Phalli aus dem braunen, schuppigen Boden sprossen. Ned spielte für uns den Botaniker. Das sind Saguaros, sagte er, diese Kakteen mit den großen Armen, die größer als Telefonmasten sind. Und jene struppigen, stachelbewehrten, blaugrünen, blattlosen Bäume, die so aussehen, als stammten sie von einem anderen Planeten, heißen Palo Verde. Und diese knorrigen, emporgereckten Bündel von zusammenhängenden hölzernen Ästen werden Ocotillo genannt. Ned kennt sich sehr gut im Südwesten aus. Für ihn ist es eine Art zweite Heimat, nachdem er vor ein paar Jahren einige Zeit in New Mexico verbracht hat. Aber Ned fühlt sich überhaupt überall wie zu Hause. Er spricht gern von der internationalen Schwulen-Bruderschaft. Wo er auch hinkommt, er kann sicher sein, Unterkunft und Freunde von seiner Art zu finden. Manchmal beneide ich ihn. Vielleicht wird der ganze Wahnsinn, als Schwuler in einer normalen Gesellschaft zu leben, von dem Wissen um Plätze aufgewogen, an denen man immer willkommen ist, einzig und allein aus dem Grund, weil man zum gleichen Stamm gehört. Mein Volk ist bei weitem nicht so gastfreundlich.