Wir überquerten die Grenze nach Arizona und sausten nach Phoenix. Eine Zeitlang wurde die Landschaft wieder gebirgiger, das Gelände wirkte nicht mehr so, als sei das Betreten verboten. Hier war das Land der Indianer — der Pimas. Wir konnten einen Blick auf den Coolidge-Damm werfen; Erinnerungen an den Erdkundeunterricht. Als wir hundert Meilen östlich von Phoenix waren, begannen schon Plakattafeln, uns einzuladen — nein, zu befehlen —, in einem der Motels der Stadt abzusteigen. „Verbringen Sie einen wunderbaren Urlaub im Tal der Sonne.“ Die Sonne brannte hier bereits am späten Nachmittag auf uns nieder. Unverrückbar hing sie über der Windschutzscheibe und schleuderte rotgoldene Pfeile in unsere Augen. Oliver fuhr wie ein Roboter, setzte eine glitzernde Sonnenbrille mit silbernem Gestell auf und machte weiter. Wir rasten durch eine Stadt, die Miami hieß. Kein Strand und keine Weiber im Nerz. Der Himmel war jetzt purpurn und rosa von Rauch, den die Schornsteine ausstießen. Die Luft roch nach Auschwitz. Was wurde hier nur verbrannt? Kurz vor der eigentlichen Stadt entdeckten wir den riesigen grauen Wall einer stillgelegten Kupfermine, der wie ein Schlachtschiff aussah; ein großer Hügel, aufgeschüttet aus dem Abraum vieler Jahre. Gegenüber davon, auf der anderen Seite des Highways, stand ein riesiges, protziges Motel, wahrscheinlich für diejenigen erbaut, die scharf darauf sind, die Vergewaltigung des Erdbodens aus nächster Nähe bewundern zu können. Hier wird Mutter Natur kremiert. Angeekelt rasten wir weiter, durch unbesiedeltes Land. Saguaro, Palo Verde, Ocotillo. Wir rauschten durch einen langen Gebirgstunnel. Verloren das unbewohnte Land. Die Schatten wurden länger. Hitze, Hitze, Hitze. Und dann ganz plötzlich die Tentakel städtischen Lebens, die sich vom immer noch entfernten Phoenix aus erstreckten: Vorstädte, Einkaufszentren, Tankstellen, Verkaufsbuden mit indianischen Souvenirs, Motels, Neonlicht, Imbißstuben, die Tacos, Vanillesoße, Hot Dogs, Brathähnchen und Roastbeef-Sandwiches anbieten. Oliver ließ sich zum Anhalten überreden, und wir genehmigten uns Tacos unter unheimlichen gelben Straßenlampen. Und weiter. Graue Klötze von immensen, fensterlosen Behördengebäuden flankieren die Straße. Hier ist das Geld zu Hause, hier wohnt der Überfluß. Ich war Fremder in einem fremdartigen Land, ein armer, verwirrter, entfremdeter Jid von der Upper West Side, der an Kakteen und Palmen vorbeihuschte. So weit weg von zu Hause. Diese flachen Ansiedlungen, diese glitzernden einstöckigen Bankgebäude aus grünem Glas und mit psychedelischen Plastikzeichen. Pastellfarbene Häuser mit grünem und rosafarbenem Stuck. Ein Land, in dem Schnee unbekannt ist. Amerikanische Flaggen flattern. Friß es oder hau ab, Kerl! Hauptstraße, Mesas, Arizona. Die Testfarm der Universität von Arizona liegt direkt am Highway. Weit entfernte Berge leuchten in der blauen Dämmerung. Jetzt befinden wir uns auf dem Apache Boulevard in der Stadt Tempe. Räder quietschen, eine Kurve. Und unvermittelt sind wir in der Wüste. Keine Straßen, keine Plakattafeln, nichts: Niemandsland. Dunkle, klumpige Formen zu unserer Linken: Hügel und Berge. Weit vorn Mastlichter. Nach wenigen weiteren Minuten endet das Ödland; wir haben Tempe verlassen, Phoenix erreicht und befinden uns jetzt auf der Van-Buren-Straße. Geschäfte, Häuser, Motels. „Fahr weiter, bis wir im Zentrum sind“, sagte Timothy. Anscheinend besitzt seine Familie eine größere Beteiligung an einem der Motels in der City; dort wollen wir absteigen. Noch zehn Minuten Fahrt durch eine Gegend voller Secondhand-Buchläden und Mietgaragen (fünf Dollar die Nacht), dann sind wir in der City. Wolkenkratzer, zehn oder zwölf Stockwerke: Banken, ein Zeitungshaus, große Hotels. Die Hitze ist unglaublich, fast vierzig Grad. Jetzt haben wir erst Ende März; wie mag das Wetter erst im August sein? Hier steht unser Motel. Vor dem Eingang eine Kamelstatue. Eine große Palme. Eine enge, wenig freizügige Eingangshalle. Timothy meldet uns an. Wir nehmen eine Suite. Hinten, zweiter Stock. Ein Swimmingpool. „Wer hat Lust zu schwimmen?“ fragte Ned. „Und danach ein mexikanisches Abendessen“, sagte Oliver. Unsere Gehirne quellen über. Immerhin sind wir jetzt in Phoenix. Haben fast unser Ziel erreicht. Morgen schwärmen wir nach Norden aus, um die Zufluchtsstätte der Hüter der Schädel zu finden.
Jahre scheinen seit dem Beginn unserer Unternehmung vergangen zu sein. Der kurze, unauffällige, zufällig entdeckte Hinweis in der Sonntagszeitung. Ein „Kloster“ in der Wüste, nicht weit von Phoenix entfernt, wo zwölf oder fünfzehn „Mönche“ eine sehr eigene Form sogenannten Christentums praktizieren. „Sie kamen vor ungefähr zwanzig Jahren aus Mexico, und man nimmt an, daß sie zur Zeit von Cortez aus Spanien nach Mexico gekommen sind.
Sie versorgen sich selbst, bleiben lieber unter sich und ermutigen Besucher nicht, zu kommen. Trotzdem begegnen sie jedem herzlich und gesittet, der sich in ihre isolierte, von Kakteen umringte Zuflucht verirrt. Der Baustil ist merkwürdig, eine Kombination aus mittelalterlichem Christentum und etwas, das aztekischen Motiven ähnelt. Das vorherrschende Symbol, welches dem Kloster ein eigentümliches, sogar groteskes Erscheinungsbild gibt, ist der menschliche Totenschädel. Überall Schädel, grinsend und düster, als Relief oder in sonstigen dreidimensionalen Darstellungen. Ein langer Fries von Schädeldarstellungen scheint nach dem Muster hergestellt worden zu sein, das man in Chichen Itzá auf Yukatán finden kann. Die Mönche sind hager und kräftig, ihre Haut ist gebräunt und gehärtet von der Wüstensonnenstrahlung und dem Wind. Seltsam, sie wirken gleichzeitig alt und jung. Der einzige, mit dem ich sprechen konnte, weigerte sich, seinen Namen zu nennen, mochte dreißig oder dreihundert Jahre alt sein; es war unmöglich, dies zu entscheiden …“
Nur durch Zufall entdeckte ich diese Meldung, als ich die Reisebeilage der Zeitung überflog. Nur ein Zufall, daß etwas von dieser merkwürdigen Sache — ein Fries voller Schädel, alte und doch junge Gesichter sich in meinem Bewußtsein hielt. Und genauso der reine Zufall, daß ich einige Tage später auf das Manuskript des Buches der Schädel in der Universitäts-Bibliothek stieß.
Unsere Bibliothek hat ein Archiv, ein Lagerhaus voller auserlesener Stücke und Kuriosa, Manuskriptreste, Apokryphen und Raritäten, die bisher niemand einer Übersetzung für wert befunden hatte, geschweige denn einer Entschlüsselung, Klassifizierung oder Analyse. Ich glaube, jede größere Universität verfügt über ein ähnliches Repositorium, angefüllt mit einer Vielfalt von Dokumenten, die durch Stiftungen oder eine Ausgrabungsexpedition in ihren Besitz gelangten und nun auf eine gelegentliche (in zwanzig Jahren, in fünfzig?) genaue Untersuchung durch die Gelehrten warten. Unser Repositorium ist weiträumiger angelegt als die meisten anderen, vielleicht, weil drei Generationen von Bibliothekaren hungrig und habsüchtig für ein Imperium gesammelt haben. Sie häuften die Schätze des Altertums schneller an, als ein ganzes Bataillon Gelehrter mit dem Zuwachs fertig werden konnte. In einem solchen System werden bestimmte Sachen ungeordnet beiseite gelegt, hinweggeschwemmt vom Strom der Neuerwerbungen. Bald sind sie verborgen, vergessen und verwaist. Deshalb befinden sich bei uns ganze Regale, die vollgestopft sind mit sumerischen und babylonischen Keilschrift-Dokumenten, die meisten von ihnen wurden während der gefeierten Ausgrabungen 1902-1905 in Mesopotamien zutage gefördert; wir besitzen tonnenweise ungeöffnete Papyrusrollen aus den späteren ägyptischen Dynastien; kiloweise liegt dort Material aus den Synagogen des Irak, nicht nur Thorarollen, sondern auch Hochzeitsurkunden, Gerichtsurteile, Pachtbriefe und Gedichte; wir verfügen über beschriftete Stöcke aus Tamariskenholz aus den Höhlen von Tun-huang, ein vernachlässigtes Geschenk von Aurel Stein, das schon ziemlich lange dort liegt, wir besitzen Truhen voller Gemeindeverzeichnisse aus den miefigen Urkundenräumen der alten Yorkshire-Burgen; wir haben Bruchstücke und Streifen der präkolumbianischen mexikanischen Handschriften, stapelweise finden sich bei uns Hymnen und Meßgesänge von Klöstern in den Pyrenäen aus dem vierzehnten Jahrhundert. Wer weiß, vielleicht enthält unsere Bibliothek auch den Schlüssel, um die Geheimnisse der Schriften aus Mohenjo-daro zu enträtseln, oder sie führt das Lehrbuch für etruskische Grammatik von Kaiser Claudius, unkatalogisiert mögen dort die Memoiren von Moses oder das Tagebuch von Johannes dem Täufer zu finden sein. Diese Entdeckungen werden, wenn überhaupt, von anderen Bummlern in den dämmrigen, staubigen Lagertunneln unter dem Hauptgebäude der Bibliothek gemacht werden. Aber ich bin derjenige gewesen, der das Buch der Schädel gefunden hat.