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Gesucht habe ich nicht danach. Ich hatte ja noch nie davon gehört. Unter der Hand verschaffte ich mir die Erlaubnis, die Lagergewölbe zu betreten, um eine Sammlung von Manuskripten katalanischer mystischer Verse aus dem dreizehnten Jahrhundert zu suchen, die wahrscheinlich der Antiquitätenhändler Jaime Maura Gudiol aus Barcelona 1893 vermacht hatte. Professor Vasquez Ocaña, mit dem ich bei einigen Übersetzungen aus dem Katalanischen zusammenarbeiten sollte, hatte von dem Schatz von Maura von seinem Professor vor dreißig oder vierzig Jahren gehört. Und er konnte sich vage daran erinnern, sich mit ein paar dieser Schriften befaßt zu haben. Während ich die abgegriffenen Katalogkarten, die noch mit der Sepiatinte des neunzehnten Jahrhunderts beschriftet waren, durchsuchte, hatte ich bald insoweit Erfolg, als ich herausfand, wo in diesen Lagergewölben die Maura-Sammlung zu finden sein sollte. Ich begab mich auf die Suche. Ein dunkler Raum; versiegelte Kisten; unübersehbare Mengen von Aktenordnern; ich hatte kein Glück. Hustend und schluckend weiter durch den Staub. Die Finger schwarz, das Gesicht verschmiert. Noch eine Kiste wird untersucht, dann geben wir’s auf. Und dann: ein fester, roter Papierband, der ein hübsch illustriertes Manuskript auf Blättern aus feinstem Schreibpergament enthielt. Reich ausgeschmückter Titeclass="underline" Liber Calvarium. Das Buch der Schädel. Ein Titel, der einen nicht losläßt, geheimnisvoll und romantisch. Ich schlug es auf. Elegante, einzigartige Buchstaben in einer klaren, festen Handschrift aus dem zehnten oder elften Jahrhundert. Die Sprache war nicht direkt Latein, sondern eher ein lateinisiertes Katalanisch, das ich automatisch übersetzte: Vernehmt dies, o Hochwohlgeborener: Wir bieten Euch das ewige Leben an. Die verdammt seltsamste Einleitung, die mir je untergekommen war. Hatte ich mich vertan? Nein. Wir bieten Euch das ewige Leben an. Auf der Seite befand sich ein Textstück, der Rest war nicht so einfach zu entziffern wie die Einleitung. Entlang dem unteren Seitenrand und auf der linken Hälfte befanden sich acht wunderbar gemalte menschliche Schädel. Jeder einzelne wurde vom nächsten durch eine Säulenkette und ein romanisches Gewölbe getrennt. Nur ein Schädel besaß noch seinen Unterkiefer. Einer war seitlich umgekippt. Aber alle grinsten, und das Böse lauerte in ihren dunklen Augenhöhlen; Schädel nach Schädel schien vom Grab aus zu sagen: Es würde dir guttun, das zu lernen, was wir bereits entdeckt haben.

Ich ließ mich auf einer Kiste, die alte Pergamente enthielt, nieder und blätterte das Manuskript rasch durch. Zwölf Seiten oder so und alle mit grotesken Grabsymbolen verziert — gekreuzte Schenkelknochen, umgekippte Grabsteine, ein körperloses Becken oder zwei, und Schädel, Schädel, Schädel, Schädel. Den Text an Ort und Stelle zu übersetzen war mir unmöglich; viele Wörter waren zu obskur, waren weder Latein noch Katalanisch, sondern irgendeine verträumte, zuckende Zwischensprache. Doch die Essenz des Textes wurde mir schnell klar. Er war an irgendeinen Prinzen adressiert, stammte vom Abt eines Klosters und enthielt eigentlich die Aufforderung an den Prinzen, dem Weltlichen zu entsagen, um teilzunehmen an den „Mysterien“ der Klosterordnung. Die Ordnung der Mönche, sagte der Abt, sei eigentlich darauf ausgerichtet, den Tod zu vertreiben, womit er nicht etwa den Triumph der Seele in der nächsten Welt meinte, sondern eher den Sieg der Körper in dieser Welt. Wir bieten Euch das ewige Leben an. Reflexion, geistige und physische Exerzitien, richtige Ernährung und so weiter — dies waren die Tore, durch die man zum ewigen Leben gelangen konnte.

Nach einer Stunde Schweiß und Plackerei hatte ich folgendes herausbekommen:

„Das Erste Mysterium lautet wie folgt: So wie der Schädel unter dem Gesicht liegt, so lieget der Tod entlang dem Lebensstrang. Aber, o Hochwohlgeborener, darin besteht kein Paradoxon, denn der Tod ist der Begleiter des Lebens, das Leben ist der Vorbote des Todes. Wenn aber jemand durch das Gesicht den darunterliegenden Schädel erreichen und sich ihm freundlich erweisen kann, so kann dieser (unentzifferbar) …“

„Das Sechste Mysterium lautet wie folgt: Da unsere Gabe ewig verschmäht werden wird, darum müssen wir unter den Menschen ewig als Flüchtlinge leben, so müssen wir von Ort zu Ort fliehen, von den Höhlen des Nordens zu den Höhlen des Südens, und so ist es mir in den Hunderten von Jahren meines Lebens ergangen und in den Hunderten von Jahren meiner Vorgänger …“

„Das Neunte Mysterium lautet wie folgt: Der Preis eines Lebens ist immer ein Leben. Wisset, o Hochwohlgeborene, daß die Ewigkeit durch Auslöschung im Lot gehalten wird, und deshalb müssen wir Euch ersuchen, das geforderte Lot ohne Falsch aufrechtzuerhalten. Zweien von Euch gestatten wir, in unsere Gemeinde aufgenommen zu werden. Aber zwei fallen der ewigen Dunkelheit anheim. Da wir im Leben täglich sterben, sollen wir durch das Sterben ewig leben. Ist einer unter Euch, der zugunsten seiner Brüder in der Viererfigur auf die Unsterblichkeit verzichten will, so daß sie die Erkenntnis der Bedeutung der Selbstaufgabe erringen können? Und ist einer unter Euch, den zu opfern seine Kameraden bereit sind, so daß sie die Erkenntnis der Bedeutung des Ausschlusses erfassen können? Laßt die Opfer sich selbst erwählen. Laßt sie den Wert ihres Lebens nach dem Wert ihres Abgangs erwägen.“

Und mehr noch stand da, insgesamt achtzehn Mysterien und eine Zusammenfassung, die allerdings absolut unverständlich war.

Ich war wie besessen. Es war die ungeheure Faszination des Textes, die mich gefangenhielt, seine düstere Schönheit, sein reichhaltiger Zierat, sein gonghafter Rhythmus — und noch gar nicht die plötzliche Verbindung zu diesem Kloster in Arizona. Natürlich konnte ich das Manuskript nicht nach Hause mitnehmen. Aber ich ging nach oben, arbeitete mich wie Banquos schreckliches Gespenst aus den Gewölben empor und beantragte zum Studium einen Studienraum zwischen den Regalen. Dann ging ich nach Hause und badete. Ned gegenüber erwähnte ich nichts von meiner Entdeckung, obwohl er bemerkte, daß mich etwas intensiv beschäftigte. Dann kehrte ich zur Bibliothek zurück, versehen mit Papier, Stiften und meinen eigenen Wörterbüchern. Das Manuskript wartete auf dem mir zugeteilten Schreibtisch bereits auf mich. Bis zweiundzwanzig Uhr, so lange wie die Bibliothek geöffnet hatte, mühte ich mich in meiner schlechtbeleuchteten Zelle ab. Jawohl, ohne Zweifel behaupteten diese Spanier, den Weg zur Erlangung der Unsterblichkeit zu kennen. Der Text selbst führte keine weiteren Anhaltspunkte über ihre Methoden an, sondern beharrte lediglich darauf, daß sie damit erfolgreich seien. Eine ganze Menge Symbolik über den Schädel unter dem Gesicht war enthalten; für einen Kult, der so am Leben orientiert war, waren diese Mönche doch ziemlich stark von der Darstellung des Grabes fasziniert. Vielleicht war dies die notwendige Unstimmigkeit, der schreiende Widerspruch, wie er Ned bei seinen ästhetischen Theorien so wichtig war. Der Text machte klar, daß einige dieser schädelanbetenden Mönche, wenn nicht sogar alle, schon Jahrhunderte überlebt hatten. (Vielleicht sogar Jahrtausende? Eine doppeldeutige Passage im Sechzehnten Mysterium deutet eine Herkunft aus einer Zeit vor den Pharaonen an.) Ihre Langlebigkeit brachte ihnen schließlich den Mißmut der um sie herum wohnenden Sterblichen ein, von Bauern, Schäfern und Baronen; sehr oft hatten sie ihr Hauptquartier woanders aufgeschlagen, ständig auf der Suche nach einem Ort, an dem sie in Ruhe und Frieden ihren Riten nachgehen konnten.