Warum habe ich so reagiert, frage ich mich. Ich war sicher nicht dermaßen in Eile, zum Schädelhaus zu kommen. Selbst wenn der Anhalter uns fünfzehn Minuten von unserer Zeit genommen hätte, na und? Scheiß auf eine Viertelstunde, wenn einen die Ewigkeit erwartet. Es war also nicht der Zeitverlust, der mich so hatte ausklinken lassen. Und es war auch nicht der Unsinn über Charles Manson. Ich weiß, daß es tiefer gelegen haben muß.
Blitzartig war mir diese Intuition gekommen, als Ned den Wagen abbremste, um den Hippie aufzulesen. Der Hippie ist ein Schwuler, hatte ich gedacht. Genau diese Worte: Der Hippie ist ein Schwuler. Ned hat ihn bestellt, sagte ich mir, indem er irgendwelche PSI-Fähigkeiten eingesetzt hat, die Leute seines Schlages zu haben scheinen. Ned hat ihn direkt auf den Highway bestellt, Ned wird ihn auflesen und heute abend mit ins Motel nehmen. Ich will mir selbst nichts vormachen, genau das war es, woran ich gedacht habe. Und daneben hatte die Vorstellung von Ned und dem Anhalter gestanden, wie sie zusammen im Bett liegen, sich küssen, keuchen, herumwälzen, sich abtasten und eben all das tun, was Schwulen Spaß macht, wenn sie zusammen sind. Aber ich hatte wirklich keinen Grund, diese Vorstellung ernst zu nehmen. Der Hippie war nicht mehr und nicht weniger als ein Hippie gewesen, wie fünf Millionen andere auch: barfüßig, lange, verdreckte Haare, Fellweste, Röhrenjeans. Warum hatte ich geglaubt, er sei schwul? Und selbst wenn er schwul gewesen ist, was soll’s? Haben Timothy und ich nicht auch in New York und Chikago Mädchen aufgerissen? Warum sollte dann Ned nicht versuchen, auch etwas für seinen Geschmack zu finden? Was habe ich gegen Homosexuelle? Schließlich ist einer meiner Zimmergenossen einer, oder nicht? Sogar einer meiner besten Freunde! Ich wußte, wie es um Ned bestellt ist, als er in unsere Gruppe kam. Ich habe mich nicht darum gekümmert, solange er mir keine Avancen machte. Ich mochte Ned als Person, und seine sexuellen Vorlieben waren mir schnurzpiepegal. Warum also dieser plötzliche Anfall von Bigotterie auf dem Highway? Denk mal darüber nach, Oliver. Denk ruhig mal darüber nach.
Vielleicht warst du eifersüchtig, was? Wie sieht es denn mit dieser Möglichkeit aus, Oliver? Vielleicht wolltest du nicht, daß Ned sich mit jemand anderem abgibt? Was hältst du davon, diesen Gedankengang mal eben auszuloten?
Gut, gut. Ich weiß, daß er Interesse an mir hat. Hatte er schon immer. Dieser markante Blick in seinen Augen, wenn er mich ansieht, diese verträumte Sehnsucht — ich weiß genau, was das zu bedeuten hat. Nicht, daß Ned sich mir je genähert hat. Davor hat er Angst — Angst, eine angenehme, ganz nützliche Freundschaft mutwillig zu zerstören, indem er über die Stränge schlägt. Aber trotzdem hegt er Wünsche in dieser Richtung. Bin ich denn der Anstandswauwau, wenn ich ihm weder das zugestehe, was er von mir will, noch daß er dasselbe von dem Hippie bekommt? Welch eine blöde Situation. Aber ich muß die ganze Sache gründlich durchdenken: meinen Zorn, als Ned den Wagen abbremste. Das Geschrei. Die Hysterie. Offensichtlich ist irgend etwas in mir erwacht. Ich werde wohl länger darüber grübeln müssen. Ich muß die wahren Zusammenhänge finden. Das erschreckt mich. Denn ich könnte dabei etwas über mich entdecken, von dem ich gar nichts wissen will.
20. Kapitel
Ned
Jetzt werden wir wohl zu Detektiven werden. Überall in Phoenix herumsuchen, um das Schädelhaus zu finden. Ich finde das ganz amüsant: Man ist so weil gekommen und kann trotzdem den letzten Schritt nicht tun. Alles, was Eli zur Verfügung steht, ist sein Zeitungsausschnitt, der das Kloster „nicht weit nördlich von Phoenix“ ansiedelt. Doch das ist ein ziemlich großes Gebiet, dieses „nicht weit nördlich von Phoenix“. Darunter kann man alles zwischen hier und dem Grand Cañon fassen, ungefähr von einer Seite des Staates zur anderen. Wir benötigen Hilfe. Heute morgen ist Timothy mit Elis Zeitungsausschnitt zum Portier gegangen; Eli fühlte sich zu schüchtern oder glaubte, er würde sofort als Ostküstler erkannt —, um selbst zu fragen. Der Portier hatte jedoch nicht die geringste Ahnung von irgendeinem Kloster irgendwo und schlug uns vor, bei der Zeitung einmal nachzufragen, die direkt auf der anderen Straßenseite gemacht werde. Aber das Zeitungsgebäude, eine Nachmittagszeitung, öffnete erst um neun. Und wir, deren innere Uhr immer noch nach der Ostküstenzeit ging, waren schon sehr früh an diesem Morgen aufgewacht. Es war jetzt gerade erst Viertel nach acht. Also zogen wir noch etwas durch die Stadt, um die fünfundvierzig Minuten totzuschlagen; sahen Friseurläden, Kioske und die Schaufenster von Geschäften, die indianische Töpferwaren und Cowboy-Ausstattung verkauften. Die Sonne schien schon sehr warm, und das Thermometer am Bankgebäude zeigte sechsundzwanzig Grad. Der Tag versprach sehr heiß zu werden. Der Himmel präsentierte wieder sein grimmiges Wüstenblau; die Berge direkt am Rand der Stadt waren blaßbraun. Die Stadt war noch nicht zum Leben erwacht, kaum ein Auto auf den Straßen, außerhalb der Rush-hour in der City von Phoenix.
Wir sprachen kaum ein Wort miteinander. Oliver schien immer noch in Grübeleien über den Aufstand versunken zu sein, den er wegen des Anhalters entfesselt hatte. Offensichtlich hatte er Schuldgefühle, und das nicht ohne Grund. Timothy gab sich gelangweilt und als etwas Besseres. Er hatte erwartet, in Phoenix sei etwas mehr los, das dynamische Zentrum der dynamischen Wirtschaft von Arizona. Die Stille hier beleidigte ihn. (Später entdeckten wir, daß es ein oder zwei Meilen aus der City heraus ganz schön dynamisch wird, dort, wo die wirkliche Prosperität stattfindet.) Eli war gereizt und in sich gekehrt, er fragte sich zweifelsohne, ob er uns für nichts und wieder nichts durch den Kontinent gescheucht hatte. Und ich? Mißmutig, trockene Lippen, ein Kratzen im Hals. Der Hodensack war angespannt, was mir immer passiert, wenn ich sehr, sehr, sehr nervös bin. Ich spannte meine verkrampften Muskeln am Arsch an und lockerte sie wieder. Was, wenn es das Schädelhaus gar nicht gibt? Schlimmer, was wenn es wirklich existiert? Ein Ende für mein kunstvoll schwankendes Hin und Her; ich müßte schließlich doch Farbe bekennen, müßte mich der Wirklichkeit stellen, mich selbst zugunsten der Riten der Hüter aufgeben, oder, auf der anderen Seite, mich verhöhnen und ableben. Wie würde ich mich entscheiden? Ständig schwebte das Neunte Mysterium wie ein Damoklesschwert über uns, schattenwerfend, bedrohlich, verführerisch. Die Ewigkeiten müssen durch Auslöschungen ausbalanciert werden. Zwei leben ewig, zwei sterben sofort. Dieser Satz klingt mir wie zarte, zerbrechliche Musik in den Ohren; er schimmert in der Ferne; aufreizend singt er aus den nackten Hügeln. Ich fürchte ihn, und gleichzeitig kann ich dem glücksspielhaften Reiz nicht widerstehen, den er anbietet.
Um neun versammelten wir uns in der Redaktion der Zeitung. Wiederum stellte Timothy die Fragen; sein müheloses, selbstsicheres Oberklassenauftreten läßt ihn in jeder Situation das Richtige tun. Die Vorteile einer Zucht. Timothy gab uns als Studenten aus, die Untersuchungen für eine Arbeit über zeitgenössische Klöster anstellten. Wir gelangten von der Anmeldung über einen Reporter zum Chef der Feuilleton-Redaktion. Der besah sich unseren Zeitungsausschnitt und sagte, er wüßte nichts über ein solches Kloster in der Wüste (Trübsal!), aber unter seinen Leuten gäbe es einen, der sich darauf spezialisiert habe, alles über Kommunen, Kulte und sonstige ähnliche Niederlassungen am Rande der Stadt zu sammeln (Hoffnung!). Wo sei dieser Mann denn zu finden? Oh, er habe seinen Urlaub genommen, sagte der Redakteur (Verzweiflung!). Wann werde er denn in die Stadt zurückkehren? Eigentlich habe er die Stadt gar nicht verlassen (Hoffnung neu geboren!). Er verbringe seinen Urlaub zu Hause. Vielleicht lasse er mit sich reden. Auf unsere Bitte hin rief der Redakteur den Mann an und lud uns ein ins Haus dieses Spezialisten für Irrsinn jeder Art. „Er wohnt hinter der Bethany Home Road, nicht weit vom Zentrum, im vierundsechzigsten Hunderterblock. Wissen Sie, wo das ist? Sie fahren durchs Zentrum, am Camelback vorbei, dann an der Bethany Home …“ Zehn Minuten Fahrt. Wir ließen die verschlafene City hinter uns, fuhren in Richtung Norden durch das Geschäftsviertel voller gläserner Wolkenkratzer und auswuchernder Kaufhäuser und kamen durch eine Gegend mit beeindruckend modern aussehenden Häusern, die zur Hälfte von Vorgärten mit tropischen Pflanzen verdeckt wurden. Kurz dahinter eine bescheidene Wohngegend, wo wir das Haus des Mannes fanden, der alle Antworten wußte. Er hieß Gilson. Vierzig, sonnengebräunt, offene, blaue Augen, hohe, glänzende Stirn. Eine angenehme Erscheinung. Das Sammeln von allem, was sich am Stadtrand an Verrückten aufhielt, war eher sein Hobby als eine Sucht von ihm. Er sah nicht so aus, als könnte er sich krankhaft mit einer Sache beschäftigen. Ja, er kannte die Bruderschaft der Schädel, aber bei ihm hieß sie anders. „Die mexikanischen Patres“ war sein Ausdruck dafür. Nein, er selbst sei noch nie dort gewesen, aber er habe mit jemandem gesprochen, der schon dort gewesen sei, ein Tourist aus Massachusetts, vielleicht sogar derselbe, der den Artikel in der Zeitung geschrieben hatte. Timothy fragte Gilson, ob er uns den Standort des Klosters sagen könnte. Gilson bat uns ins Haus: nicht groß, sauber, die typische Südwestler-Einrichtung mit Navaho-Decken an den Wänden; ein halbes Dutzend cremefarbene und orange Töpfe der Hopi beanspruchten die Bücherregale für sich. Er holte eine Karte von Phoenix und Umgebung. „Hier befinden Sie sich im Moment“, sagte er und tippte auf die Karte. „Um aus der Stadt rauszukommen, müssen Sie sich hierhinwenden, Black Cañon Highway, das ist eine Schnellstraße. Sie nehmen diese Auffahrt hier und fahren in Richtung Norden. Folgen Sie der Ausschilderung nach Prescott, auch wenn Sie dort ja gar nicht hinwollen. Also hier, sehen Sie, nicht weit aus der Stadt heraus, ein bis zwei Meilen, verlassen Sie die Schnellstraße — haben Sie eine Karte? Kommen Sie, ich markiere es Ihnen. Dann folgen Sie dieser Straße hier, und dann biegen Sie auf dieser dort ab, sehen Sie, die nach Nordosten führt … ich glaube, das sind sechs, sieben Meilen …“ Er malte einige Zickzacklinien auf unsere Straßenkarte und schließlich ein großes X. „Nein“, sagte er, „das ist nicht der Platz, wo das Kloster steht. An dieser Stelle müssen Sie den Wagen zurücklassen und zu Fuß weitergehen. Die Straße wird dort zu einem Wüstenpfad, kein Wagen kommt da durch, noch nicht einmal ein Jeep. Aber junge Leute wie Sie werden keine Schwierigkeiten haben, es sind nur drei bis vier Meilen, immer stur nach Osten.“