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„Was ist, wenn wir daran vorbeilaufen?“ fragte Timothy. „Am Kloster, nicht an der Straße.“

„Das werden Sie schon nicht“, erklärte uns Gilson. „Aber wenn Sie zu der Indianerreservation Fort McDowell kommen, wissen Sie, daß Sie etwas zu weit gelaufen sind. Und wenn Sie am Roosevelt-See herauskommen, wissen Sie, daß Sie ein ganz schönes Stück zu weit gelaufen sind.“

Er bat uns, als wir uns verabschiedeten, auf dem Rückweg durch Phoenix bei ihm anzuhalten und ihm zu erzählen, was wir entdeckt hatten. „Ich möchte meine Unterlagen gerne komplett haben“, sagte er. „Ich wollte ja schon selbst immer einmal hin, aber Sie wissen ja, wie das so ist, es gibt soviel, was man alles machen will, und hat viel zuwenig Zeit dafür.“

Klar doch, sagten wir ihm. Wir werden Ihnen alles von A bis Z erzählen.

Rein in den Wagen, Oliver ans Steuer, Eli über die Karte gebeugt, die auf seinen Beinen ausgebreitet ist. In den Westen zum Black Cañon Highway. Ein breiter Superhighway, der in der Morgensonne schmorte. Kein Verkehr, nur ein paar schwere Laster. Wir rasten nach Norden. Alle unsere Fragen würden in Kürze beantwortet werden; zweifellos würden auch ein paar neue auftauchen. Unser Glaube, oder vielleicht besser unsere Naivität, würde belohnt werden. Mitten in dieser glühenden Hitze traf mich ein Kälteschauer. Ich vernahm eine lärmende, aufwallende Ouvertüre, die aus einem tiefen Schacht erwuchs, unheilverkündend, wagnerisch, Tubas und Posaunen machten eine dunkle, pulsierende Musik. Der Vorhang hob sich, aber ich wußte nicht, ob wir den ersten oder den letzten Akt vor uns hatten. Ich zweifelte nicht länger, daß das Schädelhaus sich wirklich dort befand. Gilson war zu überzeugt davon gewesen; das war keine Legende, sondern eine weitere Manifestation des Drangs nach Spiritismus, den diese Wüste in der Menschheit zu erwecken schien. Wir würden das Kloster finden, und es würde das richtige sein, der direkte Nachkomme des Klosters, das im Buch der Schädel beschrieben wird. Wieder ein angenehmes Schaudern — was, wenn wir den Autor des alten Manuskripts leibhaftig zu Gesicht bekommen würden, jahrtausendealt, zeitlos? Alles ist möglich, wenn man nur daran glaubt.

Glaube. Wie sehr ist mein Leben doch von diesen sechs Buchstaben beeinflußt worden! Das Bildnis des Künstlers als junger Spund: die kirchliche Schule, ihr vermodertes Dach, der Wind pfeift durch die Fenster, die so dringend einer Ausbesserung bedürfen, die bläßlichen, unerbittlichen Nonnen, die finster aus ihren schmucklosen Brillen in der Halle auf uns blicken. Der Katechismus. Die saubergewaschenen kleinen Jungen in weißen Hemden mit roten Schlipsen. Pater Burke, der uns unterrichtete. Fett, jung, ein rosafarbenes Gesicht, ständig Schweißperlen über der Oberlippe, ein Klumpen weichen Fleisches hing über den Kragen seiner Tracht. Er muß so fünfundzwanzig oder sechsundzwanzig Jahre alt gewesen sein, ein junger Priester, dem das Zölibat nicht paßte, der Schwanz noch nicht eingerostet, der sich in dunklen Stunden fragte, ob es das alles wert sei. Für den siebenjährigen Ned war er die Verkörperung der heiligen Schrift, grimmig und gewaltig. Ständig einen langen Stock in der Hand, den er auch einsetzte. Er hatte seinen Joyce gelesen, er spielte seine Rolle, und er schwang den Rohrstock. Sagt mir, ich soll aufstehen. Zitternd erhebe ich mich, möchte mir in die Hose machen und weglaufen. Meine Nase läuft. (Bis ich zwölf war, lief mir immer die Nase; mein Bild von mir als Kind wird im wesentlichen von einem dunklen Schmutzfleck und einem klebrigen Dreckschnurrbart bestimmt. Die Pubertät drehte diesen Hahn schließlich ab.) Mein Handgelenk fährt zur Oberlippe: einmal rasch drübergewischt. „Sei nicht so gewöhnlich!“ kommt es von Pater Burke, die wäßrigen blauen Augen blitzen. Gott ist Liebe, Gott ist Liebe, aber was ist dann Pater Burke? Der Rohrstock pfeift durch die Luft. Die Blitzschläge seines schrecklichen, hurtigen Schwerts. Gereizt gestikuliert er vor mir. „Das apostolische Glaubensbekenntnis, los, raus damit!“

Stammelnd sage ich: „Ich glaube an den einen Gott, den allmächtigen Vater, Schöpfer des Himmels und der Erde, und an den einen Herrn Jesus Christus … und an den einen Herrn Jesus Christus …“

Ich stockte. Hinter mir ein rauhes Flüstern, Sandy Dolan: „Gottes eingeborenen Sohn.“ Meine Knie zittern. Meine Seele schreit. Letzten Sonntag haben Sandy Dolan und ich nach der Messe durch Fensterscheiben geguckt und seine Schwester dabei beobachtet, wie sie sich umzog. Fünfzehn Jahre alt, kleine Brüste mit rosafarbenen Knospen, unten dunkle Haare. Dunkle Haare. Bei uns wachsen auch Haare, flüsterte Sandy. Hat Gott uns gesehen, wie wir sie heimlich beobachteten? Am heiligen Sonntag solche Sünde! Jetzt erhebt sich drohend der Rohrstock.

„… Gottes eingeborenen Sohn, unsern Herrn. Er hat Fleisch angenommen durch den Heiligen Geist aus der Jungfrau Maria …“ Ja, jetzt weiß ich endlich wieder weiter, bin mit dem Herzen dabei. Jetzt kommt der melodramatische Teil, den ich so liebe. Ich spreche überzeugter, lauter, meine Stimme ein heller Flöten-Sopran. „… Unter Pontius Pilatus hat er den Tod erlitten und ist begraben worden. Er ist auferstanden am dritten Tage; er ist aufgefahren in den Himmel … aufgefahren in den Himmel …“

Ich habe mich wieder verzettelt. Sandy, hilf mir! Aber Pater Burke steht zu dicht bei mir. Sandy wagt es nicht zu sprechen.