Kein Fernseher in diesem Motel. Auch zu lesen nicht besonders viel, außer diesem Büchlein, das sie auf dem Boden neben meinem Kinderbett liegen lassen haben. Und was darin steht, habe ich bereits vorher gelesen. Das Buch der Schädel, ohne Zweifel. Maschinegeschrieben, in drei Sprachen: Latein, Spanisch, Englisch. Eine geschmackvolle Covergestaltung: Schädel und gekreuzte Knochen. He, ho, Siebzehn Mann auf des toten Manns Kiste! Aber amüsieren tut mich das nicht. Und im Buch selbst steht all das Zeugs, das Eli uns vorgelesen hat, diese melodramatische Scheiße über die achtzehn Mysterien. Der Text liest sich anders als Elis Übersetzung, aber der Sinn ist der gleiche. Viel Geschwafel um das ewige Leben, aber auch viel Gerede um den Tod. Zuviel.
Ich würde gern von diesem Ort verschwinden, falls sie jemals die Tür öffnen. Ein Witz ist einmal gut, auch zweimal, und vielleicht war es wirklich ganz spaßig, im letzten Monat auf Grund von Elis Gerede auf dem Arsch über den Teer nach Westen zu fahren, aber jetzt, wo ich einmal hier bin, kann ich nicht mehr verstehen, was mich dazu bewogen hat mitzumachen. Falls das wirklich alles wahr sein sollte, was ich noch immer bezweifle, möchte ich nicht Teil von ihnen werden, selbst wenn sie bloß ein Haufen von rituellen Fanatikern sein sollten, was mir wahrscheinlicher scheinen will, selbst dann möchte ich nicht bei ihnen mitmachen. Ich sitze jetzt zwei Stunden hier drin, und für meinen Geschmack reicht das. Diese ganzen Totenschädel gehen mir auf den Nerv. Die Nummer mit der verschlossenen Tür auch. Und dieser unheimliche alte Mann. Okay, Jungs, jetzt reicht’s. Timothy will jetzt wieder nach Hause.
25. Kapitel
Eli
Sooft ich auch in Gedanken die kleine Szene mit Bruder Antony wiederholt habe, ich kann mir einfach keinen Reim darauf machen. Wollte er mich hochnehmen? War seine Unkenntnis nur geschauspielert? Oder hat er nur ein Wissen vorgegeben, über das er in Wahrheit gar nicht verfügt? War es das schelmische Lächeln des Eingeweihten oder ein plumper Bluff?
Es konnte ja sein, so sagte ich mir, daß sie das Buch der Schädel unter einem anderen Namen kennen. Oder daß sie im Verlauf der Wanderung von Spanien über Mexiko nach Arizona ihren theologischen Symbolismus fundamental umgestellt hatten. Ich war überzeugt, trotz der dunklen Antwort des Bruders, daß dieser Ort der direkte Nachfolger des Katalonischen Klosters sei, in dem das Manuskript, das ich entdeckt hatte, geschrieben worden war.
Ich nahm ein Bad. Das angenehmste Bad meines Lebens, das Ultimative an Bad, der Höhepunkt. Ich entstieg der prächtigen Wanne und stellte fest, daß meine Kleider verschwunden waren, und die Tür war verschlossen. Ich zog abgenutzte, ausgefranste Shorts an, die sie mir hingelegt hatten. (Sie?) Und ich wartete. Und wartete. Und wartete. Nichts zu lesen, nichts zu begucken, außer der schönen Steinmaske eines glotzäugigen Schädels, eine Mosaikarbeit, eine Unmenge von kleinen Steinchen aus Jade, Muscheln, Obsidian und Türkis, eine Kostbarkeit, ein Meisterwerk. Ich überlegte, ob ich ein zweites Bad nehmen sollte, bloß um die Zeit rumzukriegen. Dann öffnete sich meine Tür — ich hörte weder einen Schlüssel noch das Klicken eines Schlosses —, und jemand trat ein, der auf den ersten Blick wie Bruder Antony aussah. Der zweite Blick bewies mir, daß es sich um jemand anderen handelte: eine Spur größer, die Schulter eine Idee enger zusammen, die Haut um einen Ton heller, aber ansonsten die gleiche untersetzte, derbe, pseudopicassoide Gestalt. Mit einer seltsam ruhigen Stimme sagte er: „Ich bin Bruder Bernard. Bitte folgen Sie mir.“
Der Gang schien sich noch auszuweiten, während wir ihn durchquerten. Wir liefen immer weiter, Bruder Bernard an der Spitze, meine Augen starrten die meiste Zeit wie gebannt auf seine merkwürdig hervortretende Wirbelsäule. Mit nackten Füßen auf dem glatten Steinboden, ein angenehmes Gefühl. Geheimnisvolle Türen aus wertvollem Holz verschlossen zu beiden Seiten des Gangs: Zimmer, Zimmer, Zimmer, Zimmer. Millionenwerte an grotesken mexikanischen Artefakten hingen an den Wänden. Alle Götter des Alptraums starrten eulenhaft auf mich herab. Man hatte das Licht eingeschaltet, und ein sanfter gelber Glanz strömte von weitstrahlenden, schädelförmigen Leuchtern, wiederum der Hang zum Melodramatischen. Als wir uns dem Vorderteil des Gebäudes näherten, dem U-Bogen, warf ich einen Blick über Bruder Bernards rechte Schulter und bemerkte zu meiner Verwunderung kurz eine unzweifelhaft weibliche Gestalt, etwa zehn bis fünfzehn Meter vor mir. Ich sah, wie sie aus der letzten Tür dieses Schlafkammerflügels schritt, ohne Eile überquerte sie meinen Weg — sie schien zu schweben und verschwand zum Hauptteil des Gebäudes hin: eine kleine, schlanke Frau, die eine Art Minikleid mit Trägern trug, das kaum die Hüften bedeckte, aus einem weichen, plissierten, weißen Material. Ihr Haar war dunkel und glänzend, südländisches Haar, und hing locker bis zu ihren Schultern herab. Ihre Haut war tief gebräunt und bot damit einen starken Kontrast zu ihrem weißen Kleid. Ihre Brüste schoben sich groß heraus; mir blieb kein Zweifel über ihr Geschlecht. Ihr Gesicht konnte ich nicht deutlich erkennen. Mich überraschte, daß es im Schädelhaus sowohl Schwestern als auch Brüder gab, aber vielleicht war sie nur ein Dienstmädchen, denn der Ort mußte ja peinlich sauber gehalten werden. Ich wußte, daß es keinen Zweck hatte, Bruder Bernard danach zu fragen; er hüllte sich in Schweigen wie andere Leute in einen Panzer.
Er geleitete mich in einen großen Raum, der zeremoniellen Zwecken diente, offensichtlich war es aber nicht derselbe, in dem Bruder Antony uns begrüßt hatte, denn ich entdeckte kein Anzeichen für eine Falltür, die zum Tunnel führte. Auch der Springbrunnen hier schien eine andere Form zu haben: höher, eher eine Tulpenform, obwohl die Figur, durch die das Wasser floß, der im anderen Raum sehr ähnelte. Durch das halboffene Dach sah ich den schrägen Lichteinfall des späten Nachmittags. Die Luft war heiß, aber nicht so stickig wie zuvor.
Ned, Oliver und Timothy hatten sich bereits eingefunden, jeder von ihnen mit Shorts bekleidet, alle drei wirkten angespannt und unsicher. Oliver hatte den ihm eigentümlichen starren Gesichtsausdruck, den er in großen Streßsituationen immer zeigt. Timothy bemühte sich blasiert zu wirken, scheiterte aber dabei. Ned blinzelte mir kurz und abrupt zu, vielleicht als Glückwunsch, vielleicht spöttisch.
Ungefähr ein Dutzend Brüder befanden sich ebenfalls in diesem Raum.
Sie schienen alle aus der gleichen Vorlage gestanzt: Wenn sie schon nicht im wörtlichen Sinn Brüder waren, so mußten sie doch zumindest Vettern sein. Keiner von ihnen war größer als ein Meter siebzig, manche sogar nur ein Meter sechzig oder noch kleiner. Alle kahl. Tonnenbrust. Tiefgebräunt. Haltbar aussehend. Nackt bis auf diese Shorts. Einer, den ich als Bruder Antony zu erkennen glaubte — er war es auch —, trug einen kleinen grünen Anhänger auf der Brust; drei von den anderen trugen ähnliche Anhänger, aber aus einem dunklen Stein, vielleicht Onyx. Die Frau, die mir unterwegs begegnet war, befand sich nicht in diesem Raum.
Bruder Antony wies mich an, mich zu meinen Gefährten zu begeben. Ich stellte mich direkt neben Ned. Schweigen. Anspannung. Ein plötzlicher Impuls, laut loszulachen, den ich mit Mühe unterdrücken konnte. Welch eine absurde Situation! Wie kamen sich diese wichtigtuerischen Männlein eigentlich vor? Mit diesem leeren Gehabe um Totenschädel, mit diesem Ritual der Gegenüberstellung? Ruhig studierte uns Bruder Antony, als richte er über uns. Kein anderes Geräusch als unser Atemholen und das gefällige Geplätscher des Springbrunnens. Etwas ernste Musik aus dem Hintergrund, bitte, Maestro: Mors stupebit et natura, cum resurget creatura, judicandi responsura. Tod und Leben stehen verwundert da, wenn alle Schöpfung wiederaufersteht, um dem letzten Richter zu antworten. Um dem letzten Richter zu antworten. Und bist du unser letzter Richter, Bruder Antony? Quando Judex est venturus, euneta stricte discussurus! Wird er niemals sprechen? Müssen wir auf ewig zwischen Geburt und Tod verbleiben, Gebärmutter und Grab? Ah! Sie befolgen die Schrift! Einer der bedeutungsloseren Brüder, ohne Anhänger, geht zu einer Nische in der Wand und nimmt ein schmales Buch heraus, vorzüglich in glitzerndes rotes Saffianleder eingebunden, und reicht es Bruder Antony. Ohne daß es erwähnt wird, weiß ich, um welches Buch es sich handeln muß. Liber scriptus proferetur, in quo totum continetur. Der geschriebene Text wird gebracht werden, in dem alles enthalten ist. Unde mundus judicetur. Sobald es an der Zeit ist, die Welt zu richten. Was soll ich sagen? Du König von unermeßlicher Majestät, der jene erretten wird, die gerettet werden sollen, rette mich, o Born der Gnade! Bruder Antony sah mich direkt an. „Das Buch der Schädel“, sagte er sanft, ruhig, volltönend, „findet in diesen Tagen nur wenige Leser. Wie konnte es geschehen, daß ihr ihm begegnet seid?“