„Ein altes Manuskript“, sagte ich, „verlegt und vergessen in einer Universitätsbibliothek. Durch mein Studium … eine zufällige Entdeckung … die Neugierde verführte mich zur Übersetzung …“
Der Bruder nickte. „Und dann seid ihr zu uns gekommen? Wie geschah das?“
„Ein Zeitungsartikel“, antwortete ich. „Etwas über die Abbildungen, den Symbolismus — wir wollten es einmal ausprobieren, hatten gerade Ferien und dachten, fahren wir doch mal hin und sehen nach, ob … ob …“
„Ja“, sagte Bruder Antony, ohne weitere Fragen zu stellen. Ein ruhiges Lächeln. Er sah mir gerade ins Gesicht, wartete offensichtlich darauf, daß ich fortfuhr. Wir waren vier. Wir hatten das Buch der Schädel gelesen, und wir waren vier. Ein formeller Antrag schien jetzt angebracht. Exaudi orationem meam, ad te omnis caro ve niet. Mir wollte kein Wort über die Lippen kommen. Ich stand stumm in diesem unbegrenzten Ansturm des Schweigens und hoffte, daß Ned die Worte herauspressen würde, die mir in der Kehle steckten, daß Oliver sie sagen würde, vielleicht sogar Timothy. Bruder Antony wartete. Er wartete auf mich, er würde, wenn nötig, bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag warten, bis zu den Posaunen des Jüngsten Gerichts. Rede! Rede! Rede!
Ich redete und hörte meine eigene Stimme, als würde ich als Zuhörer daneben stehen, als würde ich mich auf einem Tonband hören. „Wir vier die wir das Buch der Schädel gelesen haben, die wir das Buch der Schädel gelesen und verstanden haben — wünschen gehorsamst … wünschen uns der Prüfung zu stellen. Wir vier … wir vier bieten uns an … als Kandidaten … wir vier bieten uns als …“ Ich stockte. War meine Übersetzung korrekt? Würde er meine Übersetzung verstehen? „Als ein Fruchtboden“, sagte ich.
„Als ein Fruchtboden“, sagte Bruder Antony.
„Ein Fruchtboden. Ein Fruchtboden. Ein Fruchtboden“, sagten die Brüder im Chor.
Wie belebt die Szene jetzt geworden war! Ja, plötzlich sang ich den Tenor in Turandot, schrie es heraus, nach den fatalen Geheimnissen befragt zu werden. Auf widersinnige Weise schien die Szene theatralisch, ein albernes und übertriebenes Schauspielstückchen, das entgegen aller Vernunft in einer Welt ablief, in der Signale von Satelliten aus dem Orbit empfangen wurden, langhaarige Burschen hinter Pot her waren und die Schlagstöcke der Gestapo-Polizisten in fünfzig amerikanischen Städten die Köpfe von Demonstranten zerschmetterten. Wie konnten wir hier stehen und Totenschädel und Fruchtböden besingen? Aber noch merkwürdigere Merkwürdigkeiten standen uns bevor. Unheilschwanger nickte Bruder Antony dem zu, der ihm das Buch gebracht hatte, und der verschwand wiederum in der Nische. Jetzt entnahm er ihr eine massive, sorgfältig auf Glanz gebrachte Steinmaske; er reichte sie Bruder Antony, der sie sich übers Gesicht stülpte; da trat einer der Brüder mit Anhänger nach vorne, um am Hinterkopf eine Schnur festzubinden. Die Maske bedeckte Bruder Antonys Gesicht von der Oberlippe ab aufwärts. Sie verlieh ihm das Aussehen eines lebenden Totenschädels; Antonys kühle, klare Augen leuchteten mir aus den steinernen Augenhöhlen entgegen. Das war wohl zu erwarten gewesen.
Er sagte: „Ihr seid euch der Bedingungen bewußt, die im Neunten Mysterium enthalten sind?“
„Ja“, sagte ich. Bruder Antony wartete: Er bekam eine zustimmende Antwort von Ned, Oliver und zurückhaltend von Timothy.
„Ihr stellt euch dieser Prüfung nicht leichtfertig, sondern im Bewußtsein der Gefahren und auch der Belohnung. Ihr unterstellt euch ganz und gar und ohne innere Einschränkungen. Ihr seid hierhergekommen, um ein Sakrament zu empfangen, und nicht, um Spaß zu haben. Ihr gebt euch vollständig der Bruderschaft hin und ganz besonders den Hütern. Seid ihr dazu bereit?“
Ja, ja, ja und schließlich — ja.
„Kommt zu mir. Legt die Hände auf die Maske.“ Wir berührten sie, vorsichtig, als fürchteten wir einen elektrischen Schlag von dem kalten grauen Stein. „Es gab nicht viele Jahre, in denen ein Fruchtboden zu unserer Gemeinschaft stieß“, sagte Bruder Antony. „Wir schätzen eure Anwesenheit und übermitteln euch unseren Dank, daß ihr hierhergekommen seid. Aber jetzt muß ich euch sagen, falls eure Motive, zu uns zu kommen, nicht ernsthafter Natur waren, daß ihr dieses Haus nicht verlassen dürft, bis eure Prüfung beendet ist. Unsere Ordnung zwingt zum Schweigen. Sobald die Prüfung beginnt, gehört euer Leben uns, und wir erlauben das Verlassen dieses Grundstücks nicht. Das ist das Neunzehnte Mysterium, von dem ihr nichts gelesen haben könnt: Falls einer von euch verschwindet, so fällt das Leben der drei Verbliebenen in unsere Hand. Ist euch das völlig klar? Wir können keinen Gedankenumschwung zulassen, und ihr werdet euch gegenseitig bewachen, in dem Bewußtsein, daß, wenn ein Verräter unter euch ist, der Rest ohne Ausnahme sterben muß. Jetzt ist noch der Zeitpunkt für eine Umkehr. Wenn ihr diesen Bedingungen nicht zustimmen könnt, so nehmt die Hände von der Maske, und wir lassen euch vier in Frieden ziehen.“
Ich schwankte. So etwas hatte ich nicht erwartet: Bestrafung mit dem Tod, wenn man mitten in der Prüfung abhaute! War das ernst gemeint? Was, wenn wir nach einigen Tagen herausfanden, daß sie uns überhaupt nichts von Wert anzubieten hatten? Wir wären trotzdem verpflichtet hierzubleiben. Monat um Monat um Monat, bis sie uns schließlich mitteilten, daß unsere Prüfung beendet sei — und wir wieder freigelassen würden? Diese Bedingungen schienen untragbar, fast hätte ich meine Hand weggezogen. Aber ich erinnerte mich rechtzeitig daran, daß ich ja hierhergekommen war, um meinen Glauben zu demonstrieren, um ein inhaltsloses Leben in der Hoffnung aufzugeben, ein bedeutungsvolles dafür zu erlangen. Ja, ich gehöre euch, Bruder Antony, bedingungslos. Ich ließ meine Hand auf der Maske. Und überhaupt, wie wollten diese Männlein uns daran hindern, wenn wir uns entschlossen hinauszugehen? Das hier war doch auch nicht mehr als ein Theaterdonner-Ritual, wie die Steinmaske, wie der Chorgesang. Das versöhnte mich wieder. Ned schien auch seine Zweifel zu haben; heimlich beobachtete ich ihn und sah, wie seine Finger kurz zuckten, aber sie blieben dort. Olivers Hand rührte sich zu keinem Moment auf der Maske von der Stelle. Timothy schien am meisten zu zögern; er blickte mürrisch drein, starrte uns an und den Bruder, bekam Schweißausbrüche, hob schließlich für etwa drei Sekunden die Finger. Aber dann preßte er sie mit einer Geste von Scheiß-drauf-was-soll’s so fest auf die Maske, daß der Druck Bruder Antony nahezu taumeln ließ. Vollbracht. Wir hatten unser Pfand gegeben. Bruder Antony entfernte seine Maske. „Ihr werdet jetzt mit uns zu Abend essen“, sagte er, „und morgen früh geht es los.“