Nach der Stunde Feldarbeit ruft uns ein Gong zusammen; wir begeben uns auf unsere Zimmer, um erneut zu baden, und dann ist Frühstückszeit. Die Mahlzeiten werden in einem der Versammlungsräume aufgetischt, auf einer eleganten Steinbank. Die Speisenfolge wird nach geheimen Prinzipien zusammengestellt, in die man uns bislang noch nicht eingeweiht hat; anscheinend haben Farbe und Form dessen, was wir zu uns nehmen, genausoviel mit der Planung der Zusammenstellung wie der Nährwert zu tun. Wir essen Eier, Suppen, Brot, Gemüsebrei und so weiter, die nach Belieben mit Chili verfeinert werden; zu trinken gibt es Wasser, eine Art Weizenbier und abends Gewürzlikör, und nichts anderes. Oliver, der Steaks gewohnt ist, beklagte sich sehr häufig über den Fleischmangel. Ich habe es zuerst auch vermißt, aber mittlerweile habe ich mich völlig an diese merkwürdige Kost gewöhnt, Eli übrigens auch. Timothy murmelt nur etwas in sich hinein und kippt einen Likör nach dem anderen. Mittags am dritten Tag hatte er zuviel Bier getrunken und bekotzte den wunderbaren Schieferboden. Bruder Franz wartete, bis er fertig war, reichte dann ein Tuch und befahl ihm wortlos, seinen Dreck wegzumachen. Die Brüder mögen Timothy nicht, vielleicht fürchten sie ihn auch, denn er ist mindestens einen Kopf größer als sie alle und übertrifft den schwersten von ihnen sicher um neunzig Pfund. Den Rest von uns aber lieben sie, wie ich bereits erwähnte, und auf eine abstrakte Weise lieben sie auch Timothy.
Nach dem Frühstück steht die Morgenmeditation bei Bruder Antony an. Er spricht kaum, sondern bringt uns lediglich mit ein paar Worten den geistigen Zusammenhang nahe. Wir versammeln uns im anderen langen Flügel des Gebäudes, der dem Schlafraumflügel gegenüberliegt. Dieser hier dient zur Gänze klösterlichen Funktionen. Statt der Schlafräume findet man hier Kapellen, insgesamt achtzehn, vermutlich korrespondierend mit den Achtzehn Mysterien; die Kapellen sind genauso beeindruckend nüchtern wie die anderen Räume, und sie enthalten eine Reihe von überwältigenden künstlerischen Meisterwerken. Die meisten sind präkolumbianisch, aber einige von den Kelchen und Bildhauerarbeiten sehen sehr nach europäischem Mittelalter aus, und es gibt einige seltsame Objekte (aus Elfenbein? Knochen? Stein?), die für mich absolut unidentifizierbar sind. Auf dieser Seite des Gebäudes befindet sich auch eine umfangreiche Bibliothek, die vollgestopft ist mit Büchern und Raritäten, wenn der Blick über die Regale streift; denn im Moment ist es uns verboten, diesen Raum zu betreten, obwohl seine Tür nie verschlossen wird. Bruder Antony trifft sich mit uns in der Kapelle, die dem Versammlungstrakt am nächsten liegt. Bis auf die allgegenwärtige Totenschädelmaske ist sie völlig leer. Er kniet nieder; wir knien nieder; er legt den kleinen Jadeanhänger von seiner Brust ab, der, was nicht überrascht, die Form eines Totenschädels hat, und legt ihn vor uns auf den Boden, als Fokus für unsere Meditationen. Als Oberbruder ist Bruder Antony der einzige, der einen Jadeanhänger trägt. Aber auch Bruder Miklos, Bruder Javier und Bruder Franz sind berechtigt, ähnliche Anhänger aus poliertem braunem Stein zu tragen — ich tippe auf Obsidian oder Onyx. Diese vier sind die Hüter der Schädel, eine besondere Gruppe innerhalb der Bruderschaft. Was Bruder Antony von uns anzuschauen verlangt, ist paradox, den Schädel unter dem Gesicht, die Gegenwart des Todessymbols unter unseren lebenden Masken. Durch eine Übung in „innerer Vision“ sollen wir uns vom Todesimpuls befreien, indem wir die Macht des Totenschädels absorbieren, ganz verstehen und schließlich endgültig zerstören. Ich weiß nicht, inwieweit einer von uns in diesem Bemühen bereits Erfolg hatte; was uns sonst noch verboten ist, ist der Vergleich unserer Fortschritte. Ich bezweifle, daß Timothy in Meditation sehr gut ist. Oliver ist ganz offensichtlich gut; er starrt auf den Jade-Totenschädel mit der Intensität eines Wahnsinnigen, überströmt ihn, umzingelt ihn, und ich glaube, sein Geist tritt hervor und in den Schädel ein. Aber bewegt er sich in die richtige Richtung? Eli hat sich vor einiger Zeit bei mir darüber beklagt, welche Schwierigkeiten er hat, mittels Drogen die höchsten Grade mystischer Erfahrung zu erreichen; sein Verstand ist zu lebendig, zu sprunghaft und hat mehrere Trips selbst zunichte gemacht, da er hin und her stieß, anstatt sich zu beruhigen und ins All treiben zu lassen. Ich glaube, er hat auch hier draußen Schwierigkeiten sich zu konzentrieren. Er wirkt angespannt und ungeduldig während unserer Meditationssitzungen, er scheint sich mit Gewalt dazu zu zwingen, dazu treiben zu wollen, in einen Bereich zu gelangen, den er eigentlich nicht erreichen kann. Was mich betrifft, so genieße ich unsere tägliche Stunde mit Bruder Antony; das Paradoxon mit dem Totenschädel korrespondiert natürlich gerade mit meiner Vorliebe für Irrationalität, und ich glaube, es bereitet mir wirkliches Vergnügen, obwohl ich mir natürlich der Möglichkeit bewußt bin, daß ich mich lediglich selbst betrüge. Ich würde gern den Grad meiner Fortschritte, soweit vorhanden, mit Bruder Antony diskutieren, aber solche selbstsüchtigen Anfragen sind uns momentan nicht erlaubt. Somit knie ich nieder und starre jeden Tag auf den kleinen grünen Schädel und treibe meine Seele voran und führe meinen immerwährenden inneren Kampf zwischen angerostetem Zynismus und unterwürfigem Glauben.
Sobald unsere Stunde mit Bruder Antony beendet ist, gehen wir wieder auf die Felder. Wir rupfen Unkraut, streuen Düngemittel aus — natürlich nur organischen Dung — und setzen Keimlinge ein. Oliver ist hierbei der Beste von uns. Er hat immer versucht, seine Farmkindheit zu verdrängen, aber jetzt, ganz plötzlich, prahlt er damit, genauso wie Eli mit seinem jiddischen Vokabular prahlt, obwohl er seit seiner Bar Mitzwah nicht mehr in einer Synagoge gewesen ist. Das Meine-Abstammung-ist-besser-als-deine-Syndrom und Olivers Abstammung ist die ländlich-landwirtschaftliche. Deshalb erledigt er das Hacken und Graben mit vorbildlichem Schwung. Die Brüder versuchen, ihn zur Mäßigung anzuhalten; ich glaube, seine Energie erschreckt sie, aber gleichzeitig machen sie sich auch darüber Sorgen, er könne einen Hitzschlag bekommen; Bruder Leon, der Arztbruder, hat mehrere Male mit Oliver darüber gesprochen und ihm erklärt, daß die Vormittagstemperaturen schon zwischen dreißig und fünfunddreißig Grad lägen und im weiteren Tagesverlauf noch höher stiegen. Trotzdem rackert sich Oliver immer weiter ab. Ich halte dieses ganze Herummachen im Boden für seltsam und kaum nachvollziehbar. Es entspricht dieser Zurück-zur-Natur-Romantik, die, wie ich glaube, im Herzen von allen intellektuellen Nur-Stadtmenschen bohrt. Vorher habe ich keine anstrengendere manuelle Tätigkeit ausgeübt als die Masturbation. Somit ist die tägliche Feldarbeit nicht nur zermürbend, sondern auch etwas, das über meine Vorstellung geht, aber ich zwinge mich verbissen durch meine Arbeit. Das steht schon mal fest. Elis Beziehung zur Farmarbeit ähnelt der meinen stark, aber er geht da intensiver, romantischer heran; er redet davon, daß er dadurch physische Erneuerung von Mutter Erde erlange. Und Timothy, der natürlich mit seinen eigenen Händen noch nie mehr getan hat, als sich die Schnürsenkel zuzubinden, geht mit der vornehmen Haltung eines Landedelmanns an die Arbeit — noblesse oblige sagt er mit jeder seiner matten Bewegungen. Er arbeitet, wie die Brüder es ihm aufgetragen haben, aber er läßt dabei keinen Zweifel offen, daß er sich nur deshalb dazu herabläßt, seine Finger schmutzig zu machen, weil ihm ihr kleines Spiel Spaß macht. Nun, graben tun wir alle, wenn auch jeder auf seine Weise.
Gegen zehn Uhr wird es unangenehm heiß, und wir verlassen die Felder, alle bis auf drei Farmerbrüder, deren Namen ich noch nicht kenne. Sie verbringen zehn bis zwölf Stunden täglich draußen; vielleicht eine Art Buße? Wir anderen, sowohl Brüder als auch Fruchtboden, begeben uns auf unsere Zimmer und baden ein weiteres Mal. Dann versammeln wir vier uns im anderen Flügel zu unserer täglichen Sitzung mit Bruder Miklos, dem Geschichtsbruder.