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Miklos ist ein kompakt und kräftig gebauter kleiner Mann mit Armen wie Oberschenkeln und Oberschenkeln wie Baumstämmen. Er macht den Eindruck noch älter als die anderen Brüder zu sein, obwohl ich zugebe, daß es sich paradox anhört, einen Komparativ wie „älter“ bei einer Gruppe von zeitlosen Wesen zu gebrauchen.

Er spricht mit einem schwachen, unidentifizierbaren Akzent, und seine Gedankenabläufe sind alles andere als linear: Er schweift ab, wandert herum, gleitet völlig unerwartet von einem Thema ins andere. Ich glaube, daß das Absicht ist und daß sein Verstand eher subtil und unergründlich ist als senil und undiszipliniert. Vielleicht ist es ihm im Verlauf der Jahrhunderte zu langweilig geworden, bloß aufeinanderfolgende Gedankengänge zu verfolgen; ganz sicher würde es mir so ergehen.

Zwei Themen bringt er uns nahe: den Ursprung und die Entwicklung der Bruderschaft und die Geschichte des Begriffs der menschlichen Langlebigkeit. Beim ersten Thema ist er am schwersten faßbar, oder anders ausgedrückt, er zeigt uns nie eine stringente Linie auf. Wir sind sehr alt, sagt er immer wieder, sehr alt, sehr alt, und ich kann dann nie genau sagen, ob er die Brüder oder die Bruderschaft selbst meint, wahrscheinlich beide; vielleicht sind ja einige Brüder schon von Anfang an dabei, haben ein Leben hinter sich, das nicht nur Jahrzehnte oder Jahrhunderte, sondern ganze Jahrtausende umfaßt. Bruder Miklos deutet prähistorische Ursprünge an: die Höhlen in den Pyrenäen, Dordogne, Lascaux, Altamira, eine geheime Bruderschaft von Schamanen, die noch aus der Zeit des Erwachens der Menschheit stammt. Doch was davon wahr ist und was ins Reich der Fabel gehört, kann ich genausowenig sagen wie, ob die Rosenkreuzler ihren Ursprung wirklich von Amenhotep IV. ableiten können. Aber wenn der Bruder spricht, habe ich die Vision von verrauchten Höhlen, flackernden Fackeln, halbnackten Künstlern, die nur das Fell eines wolligen Mammuts um den Bauch gebunden haben und helle Farbstoffe an die Wände schmieren, und Medizinmännern, die rituell das Schlachten von Auerochs und Rhinozeros durchführen. Und die Schamanen wispern, hocken sich zusammen und flüstern, erzählen sich gegenseitig: Wir werden nicht sterben, Brüder, wir werden weiterleben, den Aufstieg Ägyptens aus den Überschwemmungen des Nils beobachten, die Geburt von Sumer, wir werden leben, um Sokrates, Caesar, Jesus und Konstantin zu sehen, und ja, wir werden immer noch vorhanden sein, wenn der schreckliche Pilz mit der Helligkeit einer Sonne über Hiroshima aufsteigt und wenn die Männer aus dem Metallschiff die Leiter hinunterklettern, um die Oberfläche des Mondes zu betreten. Doch hat Miklos wirklich nur das erzählt, oder habe ich das nur im Dunst der Mittagswüstenhitze geträumt? Alles ist so obskur; alles entgleitet, zerschmilzt und zerläuft, wenn sein labyrinthartiger Wortschwall sich um sich selbst dreht, verdreht, tanzt und verwickelt. Und siebartig und umschreibend erzählt er uns von einem verlorenen Kontinent, einer untergegangenen Zivilisation, der das Wissen der Bruderschaft entsprang. Und wir starren ihn an, mit großen Augen, tauschen untereinander kurze, erstaunte Blicke aus, wissen nicht, ob wir aus skeptizistischer Verachtung kichern oder vor Aufregung keuchen sollen.

Atlantis! Wie hat Miklos das bloß angestellt, in unsere Hirne diese Bilder zu zaubern: ein glitzerndes Land aus Gold und Kristall, breite belaubte Alleen, hohe, weißwandige Gelände, leuchtende Kutschen, begnadete Philosophen in wallenden Roben, die Instrumente einer vergessenen Wissenschaft aus Messing, die Aura des wohltätigen Schicksals, das gellende Getöse einer fremdartigen Musik, die in Hallen von großen Tempeln, die unbekannten Göttern gewidmet sind, ein Echo wirft. Atlantis? Wie schmal ist doch der Grat, den wir zwischen Märchen und Blödsinn errichten! Ich habe nie gehört, daß Miklos den Namen auch nur ausgesprochen hat, aber er brachte mir Atlantis schon am ersten Tag in den Sinn, und mittlerweile wächst in mir die Überzeugung, daß ich damit richtig liege, daß er tatsächlich für die Bruderschaft eine Herkunft aus Atlantis beansprucht. Was haben diese Totenschädelembleme auf der Fassade des Tempels zu bedeuten? Und was diese juwelenbesetzten Schädel, die als Ringe oder Anhänger in der Großen Stadt getragen werden? Wer sind diese Missionare in den rotbraunen Roben, die über das Festland zu den Ansiedlungen in den Bergen ziehen? Sie verwirren die Mammutjäger mit ihren Blitzen und Pistolen, halten den heiligen Totenschädel hocherhoben und rufen den Höhlenbewohnern zu, zu Boden zu sinken und sich hinzuknien. Und die Schamanen in den bemalten Höhlen, die an ihren funkensprühenden Feuern zusammenhocken, flüstern, geben nach, gewähren den strahlenden Fremden größte Achtung, verbeugen sich, küssen den Totenschädel und vergraben ihre eigenen Idole: die fettschenkligen Venusfiguren und die zurechtgeschnittenen Knochensplitter. Das ewige Leben gewähren wir euch, sagen die Neuankömmlinge, und sie zeigen eine leuchtende Tafel, auf der Bilder von ihrer Stadt, von Türmen, Kutschen, Tempeln und Juwelen schwimmen. Und die Schamanen nicken, sie kriechen mit dem Bauch auf dem Boden und gießen Wasser auf ihre heiligen Feuer. Sie tanzen, klatschen in die Hände und unterwerfen sich; sie unterwerfen sich, starren auf die leuchtende Tafel, töten das fett gewordene Mastodon und bieten ihren Gästen ein Festmahl in Brüderlichkeit an. Und so fängt alles an: die Allianz zwischen Inselleuten und Bergbewohnern in jenen Tagen. So hat es begonnen: der Fluß des Schicksals über das eisbedeckte Festland, das Erwachen, die Weitergabe des Wissens. Wenn dann das Erdbeben kommt, wenn der Vorhang weit auseinanderreißt und die Säulen wackeln und ein schwarzes Leichentuch über der Welt hängt, wenn die Prachtstraßen und Türme von der aufgebrachten See verschluckt werden, wird etwas weiterleben, wird etwas in den Höhlen überleben: die Geheimnisse, die Riten, der Glaube, der Totenschädel, der Totenschädel, der Totenschädel! War es so, Miklos? Und hat es sich so abgespielt, vor zehn-, fünfzehn- oder zwanzigtausend Jahren, in einer Vergangenheit, die abzustreiten wir es vorziehen. Welch eine Wonne, in jener Morgendämmerung gelebt zu haben! Und du lebst immer noch, Bruder Miklos? Du bist zu uns von Altamira gekommen, von Lascaux, selbst vom untergegangenen Atlantis, du und Bruder Antony und Bruder Bernard und alle anderen, ihr habt Ägypten überlebt, die Caesaren, habt dem Totenschädel eure Achtung bewiesen, habt alles durchgemacht, habt Reichtum angesammelt, den Acker bestellt, seid von Land zu Land gezogen, von den glücklichen Höhlen zu den neuentstandenen neolithischen Dörfern, von den Bergen zu den Flüssen, über den ganzen Erdball, nach Persien, nach Rom, nach Palästina, nach Katalonien, habt die Sprachen gelernt, sobald sie aufgekommen sind, habt mit den Leuten gesprochen, eure Tempel und Klöster gebaut, habt Isis, Mithra, Jehova und Jesus eure Referenz erwiesen, diesem Gott und jenem, habt alles absorbiert, allem widerstanden, habt das Kreuz über den Totenschädel gestellt, als das Kreuz gerade in Mode war, seid zu Meistern in der Frage des Überlebens geworden, habt euch gelegentlich durch die Aufnahme eines Fruchtbodens mit frischem Blut versorgt, habt immer neues Blut verlangt, obwohl euer eigenes niemals gerinnt. Und dann? Ihr seid nach Mexiko gezogen, nachdem Cortez dessen Bevölkerung für euch unterworfen hat. Hier war ein Land, das die Macht des Todes verstand, hier war ein Ort, wo der Totenschädel immer regiert hatte, vielleicht ist er dorthin, genau wie in euer Land, von den Inselleuten gebracht worden, hmm? Missionare aus Atlantis auch in Cholula und Tenochtitlan, die dort den Kult der Todesmaske verbreitet haben? Ein fruchtbarer Boden, zumindest ein paar Jahrhunderte lang. Aber ihr besteht auf einer konstanten Erneuerung, und so seid ihr weitergezogen, habt eure Beute mitgenommen, eure Masken, eure Totenschädel, eure Statuen und eure paläolithischen Schätze; seid nach Norden gezogen, in das neue Land, das leere Land, das Herz der Wüste der Vereinigten Staaten, das Land der Bombe, das Land der Schmerzen. Und mit dem angewachsenen Eifer eures Alters habt ihr ein neues Haus der Schädel gebaut, was, Miklos, und hier sitzt du, und hier sitzen wir. Ist es so gewesen? Oder habe ich mir das alles nur eingebildet, habe ich deine vagen und trüben Worte zu einem fröhlichen, selbsttäuschenden Tagtraum zusammenfließen lassen? Woher soll ich das wissen? Woher soll ich das jemals wissen? Ich habe nur deine Worte, die schleierhaft, taumelnd und fliehend in meinem Verstand sind. Und ich kann das sehen, was mich umgibt, diese Verseuchung eures vorherrschenden Symbols durch die aztekische, christliche und atlanteische Brille. Und ich kann mich nur fragen, Miklos, wie kommt es, daß du immer noch hier sitzt, so das Mammut schon längst die Weltbühne verlassen hat? Und ich frage mich: Bin ich ein Idiot oder ein Prophet?