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Der andere Bereich, den Bruder Miklos uns nahebringen soll, ist weniger verkümmert, eher bereit, ergriffen zu werden und nicht aus der Reihe zu tanzen. Er umfaßt eine Übung in Lebensverlängerung, in der Miklos lässig durch Zeit und Raum streift, auf der Suche nach Ideen, die möglicherweise erst lange nach ihm die Welt betraten. Um einen Anfang zu machen — warum soll man sich überhaupt gegen den Tod wehren, fragt er uns. Ist der Tod nicht eine natürliche Sache, eine wünschenswerte Erlösung von der harten Arbeit, ein Ziel, das jeder Gottesfürchtige sich wünschen muß? Der Schädel unter unserem Gesicht erinnert uns daran, daß alle Lebewesen zu ihrer Zeit abtreten müssen, keines bildet eine Ausnahme: Warum dann überhaupt diesem universalen Willen trotzen? Aus Staub bist du geworden, und Staub sollst du wieder werden, was? Alles Fleisch soll miteinander vergehen; wir verschwinden wieder wie ein Staubkorn, und für jedermann muß die Vorstellung schrecklich sein, es existiere etwas, das unauslöschbar ist. Aber was geben wir uns mit solcher Philosophie ab? Wenn es unsere Bestimmung ist abzuleben, muß es dann nicht auch unser Wunsch sein, den Zeitpunkt unseres Todes hinauszuschieben? Miklos’ Fragen sind rhetorisch gemeint. Mit übereinandergeschlagenen Beinen sitzen wir vor diesem muskelbepackten Berg an Jahren und wagen nicht, den Rhythmus seiner Gedanken zu stören. Er sieht uns an, ohne zu sehen. Was, so fragt er, was, wenn jemand wirklich den Tod auf unbestimmte Zeit zurückdrängen oder ihn zumindest in eine ferne Zukunft verbannen könnte? Natürlich muß man dazu die eigene Gesundheit und Kraft pflegen: Man kann diesen Lohn doch nicht erringen, wenn man ein Klappergestell geworden ist, alt und sabbernd, brabbelnd und rheumatisch, eine museumsreife Ansammlung von Zerfallserscheinungen. Denkt an Tithonus, der die Götter um Erlösung vor dem Tode bat und mit der Unsterblichkeit belohnt wurde, aber nicht mit der ewigen Jugend; grau und verwelkt liegt er in einem versiegelten Raum und wird immer älter, eingeschlossen in der Beengtheit seines vergänglichen und verführten Fleisches. Nein, wir müssen sowohl nach der Langlebigkeit als auch nach Lebenskraft streben.

Und dann gibt es jene, gibt Bruder Miklos zu bedenken, die solche Fragestellungen verachten und sich gegen eine passive Akzeptierung des Todes wehren. Er erinnert uns an Gilgamesch, der vom Tigris zum Euphrat zog, um die dornige Pflanze der Ewigkeit zu suchen und sie an eine hungrige Schlange verlor. Gilgamesch, wohin gehst du? Das Leben, welches du suchst, sollst du nicht finden; denn als die Götter die Menschheit erschufen, versahen sie sie mit dem Tod, aber das Leben selbst behielten sie. Denkt an Lukrez, sagte der Bruder und bemerkte dann, daß es sinnlos sei, der Lebensverlängerung nachzustreben, denn wie viele Jahre man auch durch solche Aktivitäten erringen könne, sie seien nichts im Vergleich zu den Ewigkeiten, die wir als Tote verbringen müßten. Durch die Lebensverlängerung können wir kein Jota von der Dauer unseres Todes abziehen oder abschaben … Wir mögen darum kämpfen und bleiben, aber wenn unsere Zeit gekommen ist, müssen wir gehen, ganz egal, wie viele Generationen wir im Laufe unseres Lebens gesehen haben, uns erwartet der gleiche ewige Tod.

Und Marc Aureclass="underline" Auch wenn du dreitausend Jahre lang leben solltest oder genauso viele Jahrzehntausende, denke immer daran, daß kein Mensch ein anderes Leben verlieren kann als sein eigenes … Das längste und das kürzeste Leben laufen auf dasselbe hinaus … alles, was die Ewigkeit betrifft, hat eine Form und dreht sich im Kreis … es spielt überhaupt keine Rolle, ob ein Mensch alles in einhundert oder zweihundert Jahren erfahren kann oder in einer unbegrenzten Zeitspanne. Und von Aristoteles will ich ein Wort im Herzen bewahren: Deshalb befinden sich alle Dinge auf der Erde zu jeder Zeit in einem Stadium des Kreislaufs: Sie entstehen und vergehen wieder … sie können niemals ewig währen, wenn sie gegensätzliche Ideen enthalten.

Soviel Rauheit. Solcher Pessimismus. Akzeptiere es, unterwirf dich, ergib dich, sterbe; sterbe, sterbe, sterbe!

Was sagt die jüdisch-christliche Überlieferung? Der Mensch, der aus einer Frau geboren wurde, hat nur einige Tage zur Verfügung, und diese sind voller Unbilden. Er blüht auf wie eine Blume und wird ebenso abgeschnitten: Er ist nicht mehr als ein Schatten und kann nicht von Dauer sein. Wissen, daß seine Tage vorbestimmt sind, die Zahl seiner Monate begrenzt ist und er beladen ist mit Pflichten, denen er nicht entkommen kann. Die traurige Weisheit des Hiob, die er auf härteste Weise erlangte. Was sagt uns Paulus? Für mich gehört das Leben Christus, und das Sterben ist ein Gewinn. Sollte das Fleisch von Leben erfüllt sein, so hat das für mich den Sinn, fruchtbare Arbeit zu leisten. Und doch weiß ich nicht, wofür ich mich entscheiden soll. Ich stehe wie gespalten vor beiden Möglichkeiten. Mein Wunsch strebt danach, abzuleben und an der Seite von Christus zu sein, denn das will mir weitaus besser erscheinen. Aber, mahnt Bruder Miklos, müssen wir solche Belehrungen annehmen? (Er gibt uns zu verstehen, daß Paulus, Hiob, Lukrez, Mark Aurel, Gilgamesch allesamt Nachzügler gewesen seien, noch nicht ganz trocken hinter den Ohren, hoffnungslos postpaläolithisch; und wieder einmal gewährt er uns einen kurzen Einblick in die dunklen Höhlen, als er zu seinem Thema über die auerochsenreiche Zeit des Paläolithikums kommt.) Nun entsteigt Miklos plötzlich diesen Niederungen der Verzweiflung, und über einen weiten Bogen eines Rückkreislaufs befinden wir uns wieder beim Vortrag über die Annalen der Langlebigkeit. All die gewaltigen Namen, die Eli uns in den Wintermonaten dauernd vorbetete, als wir immer tiefer in dieses Abenteuer stürzten, eine lange, einsame, geliebte, ausdauernde Reise, vorbei an Adam und Eva, von Pontius zu Pilatus. Und Miklos zeigt uns die Inseln der Gesegneten, das Land der Hyperboräer, das keltische Land der Jugend, das Land Yima der Perser und sogar Shangri-La. (Wisset, schreit der alte Fuchs, ich war ein Zeitgenosse, ich war dabei!) Und der Bruder schleudert uns Ponce de Leons undichten Brunnen entgegen und Glaukus, den Fischer, der die Kräuter, die am Rand des Sees wachsen, kennt und mit der Unsterblichkeit grün wird. Miklos bedenkt uns mit den Fabeln aus Herodots Werk, den Uttarakurus- und den Jambu-Baum, schüttelt hundert leuchtende Mythen vor unseren verwirrten Ohren, so daß wir aufschreien möchten, Hierher! Komm her, Ewigkeit! und uns vor dem Totenschädel niederknien. Dann wechselt er wieder, führt uns in einen Möbius-Tanz, treibt uns in die Höhlen zurück, läßt uns das Beißen eiskalter Winde spüren, den frostigen Kuß aus dem Pleistozän. Dann packt er uns an den Ohren, dreht uns nach Westen und läßt uns die heiße Sonne sehen, die über Atlantis scheint, schiebt uns weiter auf unserem Weg voran, wir stolpern, wir kriechen, dem Meer entgegen, den Ländern des Sonnenuntergangs entgegen, den untergegangenen Wundern von Atlantis entgegen und daran vorbei, nach Mexiko zu seinen dämonenhaften Göttern, seinen Totenschädel-Göttern, zum boshaften Huitzilopochtli und dem schrecklichen, schlangengleichen Coatlicue, zu den roten Altaren von Tenochtitlan, zum enthäuteten Gott, zu all den Paradoxen vom Leben-im-Tod und Tod-im-Leben, und der gefiederte Schlangengott lacht und schüttelt seinen Klapperschwanz, klick-klick, und wir stehen vor dem Schädel, vor dem Schädel, vor dem Schädel, und ein großer Gong hallt durch unseren Verstand, aus den Labyrinthen in den Pyrenäen, wir trinken das Blut der Ochsen aus Altamira, wir tanzen mit den Mammuts in Lascaux, wir hören die Tambourine der Schamanen, wir knien nieder, wir berühren den Stein mit unserer Stirn, wir reichen Wasser, wir weinen, wir schaudern unter dem Widerhall der Trommeln aus Atlantis, die über dreitausend Meilen Ozean mit der Verzweiflung des unvermeidlichen Untergangs hämmern, und die Sonne steigt auf, und ihr Licht wärmt uns, und der Schädel lächelt, und die Arme öffnen sich, und das Fleisch gewinnt die Oberhand, und die Niederlage des Todes ist offensichtlich, aber damit ist die Stunde auch zu Ende, und Bruder Miklos verschwindet und läßt uns blinzelnd und taumelnd und in Verwirrung zurück; allein; allein, allein, allein. Bis morgen.