Endlich werden wir entlassen, gewöhnlich liegen neunzig Minuten Anstrengung hinter uns. Für den Rest des Abends haben wir Freizeit, aber von dieser Freiheit machen wir keinen Gebrauch; zu diesem Zeitpunkt können wir nur noch ins Bett fallen, was wir auch tun, denn allzubald schon werden das Morgengrauen und Bruder Franz mit seinem herzlichen rat-tat-tat an die Tür kommen. Deshalb wird jetzt zu Bett gegangen. Ich schlafe tief, so tief wie noch nie zuvor.
So läuft unsere tägliche Routine ab. Was hat das alles zu bedeuten? Verjüngen wir uns hier? Werden wir hier älter? Wird das leuchtende Versprechen des Schädelbuches für einige von uns erfüllt werden? Ergibt irgend etwas von dem, was wir jeden Tag machen, einen Sinn? Die Totenschädel an den Wänden geben mir keine Antwort. Das Lächeln der Brüder ist undurchdringlich. Wir diskutieren nicht untereinander. Während ich noch in meinem asketischen Zimmer herumlaufe, höre ich den paläolithischen Gong in meinem eigenen Kopf: klang, klang, klang, wart’s ab, wart’s ab. Und wie ein Damoklesschwert hängt das Neunte Mysterium über uns.
29. Kapitel
Timothy
An diesem Nachmittag beschloß ich, während wir bei über fünfunddreißig Grad Hitze Hühnerkacke in Fässer verluden, daß ich die Nase voll hatte. Der Witz hatte jetzt wirklich einen langen Bart. Und die Osterferien waren auch gerade zu Ende gegangen. Ich wollte raus. Natürlich hatte ich diesen Wunsch schon am ersten Tag hier gehabt, aber Eli zuliebe habe ich meine Gefühle unterdrückt. Jetzt konnte ich sie nicht länger zurückhalten. Ich entschied, daß ich vor dem Abendessen in der Ruhepause mit Eli darüber reden wollte.
Als wir von den Feldern zurückkehrten, nahm ich rasch mein Bad und machte mich zu Elis Zimmer auf. Er saß immer noch in der Wanne; ich hörte das Wasser rauschen und ihn mit seiner tiefen, monotonen Stimme singen. Schließlich verließ er das Bad und rieb sich ab. Die hiesige Lebensart kam ihm zugute: Er wirkte kräftiger und muskulöser. Eli warf mir einen frostigen Blick zu.
„Was willst du hier, Timothy?“
„Nur eine Stippvisite.“
„Jetzt ist Ruhepause. Die sollen wir allein verbringen.“
„Wir sollen immer allein sein“, sagte ich, „außer wenn wir mit ihnen zusammen sind. Nie läßt man uns die Gelegenheit, privat miteinander zu reden.“
„Das ist schließlich ein Teil des Rituals.“
„Ein Teil des Spiels“, sagte ich. „Ein Teil des Scheißspiels, das sie mit uns spielen. Sieh mal, Eli, du bist eigentlich für mich so etwas wie ein Bruder. Es gibt niemanden, der mir zu sagen hat, wann ich mit dir reden kann und wann nicht.“
„Mein Bruder, der Goy“, sagte er. Rasch setzte er ein Lächeln auf, das genauso schnell wieder verschwand.
„Wir hatten genug Zeit zum Reden. Jetzt stehen wir unter der Anweisung, uns voneinander fernzuhalten. Du gehst besser wieder, Timothy. Wirklich, du gehst besser, bevor die Brüder dich hier drin entdecken.“
„Wo sind wir denn hier, verdammt noch mal? Im Gefängnis?“
„In einem Kloster. Und ein Kloster hat feste Regeln. Dadurch, daß wir hierhergekommen sind, haben wir uns diesen Regeln unterworfen.“ Eli seufzte. „Willst du jetzt bitte gehen, Timothy?“
„Es sind ja gerade diese Regeln, über die ich mit dir reden will, Eli.“
„Ich habe sie nicht gemacht. Und ich kann keine für dich aufheben.“
„Laß mich doch ausreden“, sagte ich. „Du weißt, daß die Zeit nicht stehenbleibt, während wir uns hier als Fruchtboden aufhalten. Man wird uns bald vermissen. Unsere Familien werden entdecken, daß sie lange nichts mehr von uns gehört haben. Und jemand wird herausfinden, daß wir nach den Osterferien nicht aufs College zurückgekehrt sind.“
„Na und?“
„Wie lange sollen wir denn noch hier bleiben, Eli?“
„Bis wir das haben, was wir wollten.“
„Du glaubst an den ganzen Scheiß, den sie uns erzählt haben?“
„Hältst du immer noch alles für Quatsch, Timothy?“
„Ich habe hier weder etwas gehört noch gesehen, was meine Meinung ändern könnte.“
„Und die Brüder? Was meinst du, wie alt sie sind?“
Ich zuckte mit den Achseln. „Sechzig. Siebzig. Einige von Ihnen vielleicht sogar achtzig. Sie führen ein gesundes Leben, viel frische Luft, körperliche Bewegung und sorgfältig ausgesuchte Nahrung. Damit halten sie sich in Form.“
„Ich glaube, daß Bruder Antony mindestens tausend Jahre alt ist“, sagte Eli. Sein Tonfall war kalt, aggressiv und bestimmt: Normalerweise hätte er mich damit zum Lachen gebracht, aber ich konnte es einfach nicht. „Vielleicht ist er sogar noch älter“, fuhr Eli fort. „Das gleiche gilt für Bruder Miklos und Bruder Franz. Ich vermute, daß es nicht einen unter ihnen gibt, der jünger als hundertfünfzig Jahre ist.“
„Ist ja entzückend.“
„Was willst du, Timothy? Willst du raus?“
„Ich habe daran gedacht.“
„Allein oder mit uns?“
„Vorzugsweise mit euch. Wenn nötig, auch allein.“
„Oliver und ich werden nicht gehen, Timothy. Und ich glaube, Ned auch nicht.“
„Schätze, dann bin ich auf mich selbst angewiesen.“
„Soll das eine Drohung sein?“ fragte er.
„Es ist eine Folgerung.“
„Du weißt, was uns anderen passiert, wenn du abhaust.“
„Hast du wirklich Angst davor, daß die Brüder unseren Eid durchsetzen?“ fragte ich.
„Wir haben geschworen, nicht abzuhauen“, sagte Eli. „Sie haben die Strafe dafür genannt, und wir haben zugestimmt, zu bleiben. Ich würde ihre Fähigkeit nicht unterschätzen, den Schwur wahr zu machen, wenn einer von uns ihnen die Gelegenheit dazu gibt.“
„Quatsch, sie sind doch bloß ein Haufen kleiner, alter Männer. Wenn einer von denen mir zu nahe kommen sollte, würde ich ihn in zwei Teile spalten. Mit einer Hand.“
„Wahrscheinlich könntest du das, vielleicht aber auch nicht. Möchtest du für unseren Tod verantwortlich sein, Timothy?“
„Jetzt komm mir nicht mit dem Melodram-Kappes. Ich bin nur verantwortlich für mein eigenes Handeln. Sieh es doch einmal von der existentiellen Seite, so, wie du es immer von uns verlangst: Wir gestalten selbst unser Schicksal, Eli, wir gehen unsere eigenen Wege. Warum sollte ich mich an euch binden lassen?“
„Du hast freiwillig einen Eid abgelegt.“
„Ich kann ihn widerrufen.“
„Nun gut“, sagte er. „Widerrufe, pack deinen Kram zusammen und hau ab.“ Nackt ausgestreckt lag er auf seinem Kinderbett und stahl mir damit die Show; ich hatte Eli noch nie so bestimmt gesehen, so gutaussehend. Plötzlich war er überraschenderweise zu einer respektablen Persönlichkeit geworden. Er sagte: „Nun, Timothy? Du bist für dein Handeln verantwortlich. Niemand hält dich auf. Bei Sonnenuntergang könntest du schon in Phoenix sein.“
„So eilig ist es mir nicht. Ich wollte dieses Problem mit euch dreien diskutieren, zu einer Art rationalen Verstehens kommen. Niemand will irgend jemand anderen niederknüppeln, aber wir alle stimmen darin überein, daß …“
„Wir haben darin übereingestimmt, hierherzukommen“, sagte Eli. „Und wir haben darin übereingestimmt, die Sache einmal auszuprobieren. Eine weitere Diskussion ist also nicht nötig. Du kannst gehen, wann immer du willst, solange du natürlich im Kopf behältst, welchen Gefahren du uns durch eine solche Tat aussetzt.“
„Das ist Erpressung.“
„Ich weiß.“ Seine Augen blitzten auf. „Wovor hast du Angst, Timothy? Oder bereitet dir die Vorstellung Sorgen, wirklich das ewige Leben zu erlangen? Bricht dir eine kreatürliche Angst das Rückgrat, Mann? Stellst du dir dich vor, wie du von Jahrhundert zu Jahrhundert gehst, festgebunden am Rad des Schicksals, unfähig, dich davon zu befreien? Was erschreckt dich mehr, Timothy: das Leben oder das Sterben?“