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„Du Arschwichser.“

„Du bist im falschen Zimmer“, sagte Eli. „Geh raus, zweite Tür links, und frag da nach Ned.“

„Ich bin hierhergekommen, um ernsthaft zu reden. Ich wollte keine Witzchen hören und keine Drohungen und keine persönlichen Beleidigungen. Ich wollte nur wissen, wie lange du, Oliver und Ned vorhabt, hierzubleiben.“

„Wir sind doch gerade erst angekommen. Es ist noch zu früh, um über ein Verschwinden zu reden. Würdest du mich bitte entschuldigen?“

Ich verließ sein Zimmer. Ich drehte mich im Kreis, und wir beide wußten das. Und Eli hatte mir ein paarmal schmerzhafte Nadelstiche versetzt, an Stellen, von denen ich nicht angenommen hatte, dort so verwundbar zu sein.

Beim Abendessen begegnete er mir so, als sei überhaupt nichts gewesen.

Und was jetzt? Soll ich hier einfach sitzen und warten und mich wundern? Ehrlich, lange halte ich das hier nicht mehr aus. Ich bin ganz einfach nicht der Typ für ein Leben im Kloster, ganz abgesehen von der Frage des Buches der Schädel und dem, was es vielleicht anzubieten hat. Man muß für solche Sachen genormt sein: Man muß die Fähigkeit zum Entsagen in den Genen haben, eine Spur von Masochismus. Ich muß versuchen, das Eli und Oliver bewußt zu machen. Die beiden Verrückten, die beiden unsterblichkeitssüchtigen Trottel. Sie würden hier glatt zehn oder zwanzig Jahre bleiben, Unkraut jäten, sich bei den Übungen das Kreuz verrenken, in die Sonne starren, bis sie erblinden, gepfefferten Matsch essen — und wären trotzdem davon überzeugt, dies sei der richtige Weg, das ewige Leben zu erlangen. Eli, der mir immer verrückt und neurotisch vorkam, aber unter der Oberfläche ziemlich gescheit, scheint mir jetzt endgültig ausgeflippt zu sein. Seine Augen wirken befremdlich, starr und grimmig, wie die von Oliver: psychotische Augen, schreckliche Augen. In Eli geht etwas vor. Von Tag zu Tag erhält er mehr Kraft, nicht nur muskelmäßig nimmt er zu, er scheint auch an moralischer Stärke zu gewinnen, an Inbrunst, an Dynamik: Er hat sich dieser Sache verschrieben und läßt jeden wissen, daß er niemandem erlauben wird, sich zwischen ihn und sein Ziel zu stellen. Für Eli ist das eine ganz neue Haltung. Manchmal glaube ich, er entwickelt sich zu einer Art Oliver — eine schmächtige, dunkle, behaarte, jiddische Ausgabe von Oliver. Oliver selbst natürlich hält seinen Mund geschlossen und arbeitet im Haushalt für zehn, und bei den körperlichen Übungen verbiegt er sich zu einer Brezel, bloß um den Bruder auszustechen. Sogar Ned scheint sich dem Glauben zuzuwenden. Von ihm kommen keine spitzen Bemerkungen mehr, keine kleinen, zynischen Bonmots. Morgens sitzen wir da und hören Bruder Miklos zu, wie er viel Garn senilen Gebabbels spinnt, bei dem höchstens ein Satz von sechsen einen Sinn ergibt. Und Ned sitzt da wie ein Sechsjähriger, dem man vom Weihnachtsmann erzählt, sein Gesicht ist vor Aufregung verzerrt, er schwitzt, kaut an den Nägeln, nickt und schluckt alles. Weiter so, Bruder Miklos! Atlantis, jawohl, und der Cro-Magnon-Mensch, na klar doch, und die Azteken, und was sonst noch kreucht und fleucht, Klatschmarsch bitte, jawohl, ich glaube alles. Und dann sitzen wir am Mittagstisch, und dann meditieren wir auf dem kalten Steinboden, jeder für sich natürlich, und dann gehen wir nach draußen und schwitzen uns für die Brüder auf den verdammten Feldern ab. Schluß damit, ich hab’ die Schnauze voll davon. Heute habe ich meine Chance verpaßt, aber in ein oder zwei Tagen werde ich noch einmal zu Eli gehen und versuchen, ob ich ihn nicht zur Vernunft bringen kann. Aber viel Hoffnung habe ich dabei nicht.

Eli erschreckt mich neuerdings ein wenig.

Ich wünschte mir, er hätte diese Bemerkung nicht gemacht, von wegen, wovor ich mehr Angst hätte: dem Neunten Mysterium oder dem ewigen Leben. Ich wünschte mir wirklich, er hätte diese Bemerkung mir gegenüber unterlassen.

30. Kapitel

Oliver

Ein kleines Mißgeschick, während wir vor dem Frühstück auf den Feldern arbeiteten. Ich lief zwischen zwei Reihen von Chilipflanzen und trat mit dem nackten Fuß auf einen scharfen Stein, der sich irgendwie bis an die Oberfläche vorgearbeitet hatte und jetzt mit dem scharfen Ende nach oben herausragte. Ich fühlte, wie der Stein mir die Sohle durchzuschneiden begann, und ich verlagerte blitzartig mein Gewicht; zu blitzartig. Mein anderer Fuß war auf die zusätzliche Belastung nicht vorbereitet. Der rechte Knöchel knickte ab. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich hinfallen zu lassen, so wie man es beim Basketball beigebracht bekommt, wenn man auf dem Feld übel hereingelegt worden ist und sich schnell entscheiden muß, ob man sich hinfallen läßt oder sich eine Sehnenzerrung zuzieht. Und, hoppla, fiel ich hin, direkt auf den Arsch. Weh getan hatte ich mir eigentlich nicht, aber dieses Feld war in der vergangenen Nacht tüchtig bewässert worden und immer noch matschig. Ich landete in einer klebrigen, schlammigen Pfütze, und als ich mich wieder erhob, gab es ein schmatzendes Geräusch. Meine Shorts sahen furchtbar aus — das ganze Hinterteil besudelt und naß. Nun, das ist ja an sich noch nichts Schlimmes, aber mir behagte die Berührung des feuchten Schmutzes nicht, der sich durch den Stoff auf meine Haut zuarbeitete. Bruder Franz kam zu mir, um nachzusehen, ob ich mich verletzt hatte, und ich erklärte ihm, daß mir nichts fehlte, abgesehen eben von der Sache mit meinen Shorts. Ich fragte, ob ich ins Haus gehen und mich umziehen sollte, aber er grinste nur, schüttelte den Kopf und erklärte mir, daß das nicht nötig sei. Ich bräuchte bloß die Shorts auszuziehen und an einen Ast zu hängen, die Sonne würde sie in einer halben Stunde getrocknet haben. Okay, warum nicht? Ich bin nicht darauf angewiesen, in Kleidern herumzulaufen, und mehr Ungestörtheit als hier draußen in der Mitte der Wüste konnte ich ja wohl kaum bekommen. Also entledigte ich mich der Shorts und hängte sie an einen Ast.

Die Sonne war erst vor zwanzig Minuten aufgegangen, aber schon stieg sie rasch höher und schien immer heißer. Die Temperatur, die in der Nacht auf fünf bis zehn Grad gefallen war, stieg rasch über zwanzig Grad und noch höher auf dem Thermometer. Ich spürte die Wärme auf meiner nackten Haut, der Schweiß brach mir in Strömen aus, rann den Rücken hinunter über meinen Hintern und meine Beine, und ich sagte mir, das sei eben immer so, wenn Leute an einem heißen Tag auf dem Feld arbeiteten, daß es anständig und gut sei, nackt unter einer strahlenden Sonne zu stehen, daß es völlig sinnlos sei, sich ein grobes, schmutziges Stück Stoff um den Bauch binden zu müssen, wenn man nackt genausogut vorankommt. Je mehr ich darüber nachdachte, desto weniger Sinn schien mir das Tragen von Kleidern zu haben: Solange es draußen warm ist und der eigene Körper keine Beleidigung fürs Auge ist, warum soll man sich da bekleiden? Natürlich gibt es viele Leute, die nicht so gut aussehen wie ich; die tun besser daran, sich etwas anzuziehen, glaube ich, oder zumindest, wenn wir was anziehen sollen, dann sie auch. Nun, ich war ganz froh, die schmutzigen Shorts los zu sein. Hier draußen, wo nur Männer sich aufhielten, was machte es da schon aus?

Während ich so in den Chilireihen arbeitete und ordentlich schwitzte, brachte mir meine Nacktheit andere Zeiten in Erinnerung, als ich vor vielen Jahren zum erstenmal meinen Körper und den von anderen entdeckte. Vermutlich hat die Hitze das Erinnerungsferment in mir aufgerührt. Unkontrolliert zogen Gedankenbilder durch meinen Kopf, eine dunstige, einfache, formlose Wolke der Wiedererinnerung: Unten am Fluß, ein sengend heißer Tag, als ich — ja, wie alt war ich da? — elf, ja, elf Jahre alt war; es war das Jahr, in dem mein Vater starb. Ich war mit Jim und Karl unterwegs, meinen Freunden, meinen einzigen wirklichen Freunden. Karl war zwölf, Jim so alt wie ich, und wir suchten Karls Hund, diesen Tölpel, der am Morgen weggelaufen war. Wir folgten seiner Spur, fühlten uns wie Tarzan, folgten dem Hund den Fluß hinauf, fanden hier einen Haufen und dort eine nasse Stelle an einem Baumstumpf, bis wir so ein oder zwei Meilen gelaufen waren, irgendwohin ins Niemandsland. Die Hitze bedrängte uns, und der Schweiß durchtränkte unsere Kleider. Wir haben den Hund nicht gefunden. Und wir kamen an eine tiefe Stelle im Fluß, gegenüber der Madden-Farm, wo es tief genug zum Schwimmen ist. Karl sagte: „Laßt uns schwimmen gehen.“ Und ich sagte: „Aber wir haben unser Badezeug doch gar nicht mitgebracht.“ Und beide lachten über mich und zogen sich die Kleider aus. Nun, vor meinem Vater und meinen Brüdern habe ich auch schon nackt gestanden, und gelegentlich war ich auch schon nackt schwimmen gegangen. Aber ich achtete sehr auf die Moral und war ständig in dem Bemühen verhaftet, das Richtige zu tun, so daß mir der Satz vom Badezeug, das wir nicht mitgebracht hätten, ohne Nachdenken über die Lippen gekommen war. Auch ich zog mich aus. Wir ließen unsere Kleider am Strand zurück und traten über die unsicheren, flachen Steine zum tiefen Teil des Flusses. Karl als erster, dann Jim, dann ich, und wir sprangen hinein und spritzten zwanzig Minuten oder so im Wasser herum. Als wir wieder herauskamen, waren wir natürlich naß, und so setzten wir uns an den Strand, um uns von der Sonne trocknen zu lassen, da wir ja keine Handtücher dabei hatten. So etwas hatte ich noch nie erlebt, einfach so nackt mit anderen Nackten auf offenem Gelände zu liegen, ohne daß das Wasser unsere Körper verhüllte. Und wir betrachteten uns gegenseitig. Karl, der ein Jahr älter als Jim und ich war, hatte bereits begonnen, sich zu entwickeln: Seine Eier waren größer, und er hatte unten bereits ein dunkles Büschel Haare — ein paar Härchen hatte ich auch schon, aber weil ich blond bin, waren sie kaum zu sehen —, und Karl war stolz auf das, was er schon hatte. Er lag auf dem Rücken und protzte damit. Ich bemerkte, wie er auch mich besah, und ich fragte mich, was er wohl dachte. Vielleicht unterzog er meinen Schwanz einer Kritik, weil er so klein war, es war halt das Schwänzchen eines kleinen Jungen, und seiner war der von einem Mann, oder? Aber davon abgesehen, war es ganz angenehm, in der Sonne zu liegen, die Hitze auf meiner Haut, die mich trocknete und meinen Unterleib bräunte, wo ich so weiß wie ein Fischbauch war. Und ganz plötzlich kreischte Jim, klappte das Knie zusammen und legte die Hände auf die Leistengegend. Ich sah mich um, und da war Sissy Madden, die damals, glaube ich, sechzehn oder siebzehn Jahre alt war. Sie trainierte wohl mit ihrem Pferd. Ihren Anblick werde ich nie vergessen: ein Teenager mit viel Babyspeck mit langen roten Haaren, vielen Sommersprossen, engen braunen Shorts, einem weißen Polohemd, unter dem ihre prallen Brüste sich fast explosionsartig ausdehnten. Sie saß oben auf ihrer schaukelnden, rotbraunen Stute, sah auf uns drei herab und lachte. Wir hasteten auf die Füße, Karl, Jim und ich, eins, zwei, drei, und wir rannten wie die Irren im Zickzack, von einer Richtung in die andere davon und suchten verzweifelt eine Stelle, wo Sissy Madden unsere Nacktheit nicht sehen konnte. Ich erinnere mich an meine Not, an die Notwendigkeit, dem Blick dieses Mädchens zu entfliehen. Allerdings gab es nirgendwo Stellen, an denen man sich verstecken konnte. Die einzigen Bäume lagen hinter uns, unten an der tiefen Stelle des Flusses, wo wir schwimmen gegangen waren, doch da stand auch Sissy. Vor uns lag nur niedriges Gestrüpp und hohes Gras, aber nicht hoch genug. Wir konnten nicht mehr klar denken. Ich rannte, so schnell ich konnte. Mein kleines Schwänzchen flappte mir gegen den Bauch — noch nie zuvor war ich nackt gerannt und entdeckte nun die damit verbundenen Unannehmlichkeiten, und schließlich warf ich mich einfach mit dem Gesicht ins Gras, zog mich zusammen und versuchte, mich wie ein Vogel Strauß zu verstecken. Die Scham war zu groß. In dieser Stellung muß ich wohl fünfzehn Minuten verbracht haben, bis ich schließlich Stimmen hörte, die nach mir riefen. Zögernd erhob ich mich. Sie hatten sich schon wieder angezogen, und Sissy war nirgends zu sehen. Ich mußte den ganzen Weg nackt zurücklaufen, um zu meinen Kleidern zu kommen — mir kam die Strecke meilenweit vor, und ich war tief beschämt vor den beiden; sie waren angezogen und ich nackt —, und ich drehte ihnen beim Anziehen den Rücken zu. Vier Tage später sah ich Sissy Madden in der Eingangshalle zum Kino, wo sie sich mit Joe Falkner unterhielt, und sie grinste mich an und kniepste mir zu, und ich wäre am liebsten in den Erdboden versunken. Sissy Madden hat mein Ding gesehen, sagte ich mir, und diese sechs Worte gingen mir während des Films eine Million Male durch den Kopf, so daß ich von der Story so gut wie nichts mitbekam.