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»Ach so?« fragte Sherbunow. »Damit du einem an die Gurgel gehst?«

Von diesen Worten schwankte ich wie von einem Schlag. Sie wußten alles. Die unerträgliche Schwere, mit der Sherbunows Frage über mich kam, konnte ich beinahe physisch spüren.

Barbolin packte meinen anderen Arm; mühelos stellten sie mich auf die Füße und schleppten mich hinaus auf einen leeren, halbdunklen Gang, wo es tatsächlich irgendwie medizinisch roch – vielleicht nach Blut. Ich leistete keinen Widerstand. Nach einem ganzen Stück Weg stießen sie mich in ein geräumiges Zimmer, plazierten mich auf einen Schemel, der in der Mitte stand, und gingen wieder.

Mir gegenüber stand ein großer Schreibtisch, auf dem sich die Kanzleiordner türmten. Ein intelligent ausschauender Herr im gleichen weißen Kittel wie Sherbunow und Barbolin saß dahinter. Er preßte sich mit der Schulter den schwarzen Hörer des Telefonapparates ans Ohr und schien aufmerksam zu lauschen; seine Hände wälzten derweil mechanisch irgendwelche Papiere. Von Zeit zu Zeit nickte er, sprach aber kein einziges Wort. Mir schenkte er nicht die geringste Beachtung. Noch ein Weißkittel in grünen Hosen mit roter Biese saß auf einem Stuhl an der Wand zwischen den beiden hohen Fenstern, vor die staubige Vorhänge gezogen waren.

Etwas an der Einrichtung dieses Zimmers ließ mich an den Sitz des Generalstabs denken, wo ich anno sechzehn in dem Bemühen, mir meine Sporen auf dem Felde der patriotischen Journalistik zu verdienen, öfters zu tun gehabt hatte. Allerdings gab es hier, direkt über dem Kopf des bekittelten Herrn, wo man das Bildnis des Zaren hätte vermuten dürfen (zumindest aber den lieben Karl, der – o argloser Zungenbrecher aus Kindertagen! – inzwischen in halb Europa die Korallen gekrallt hatte), etwas derart Gräßliches zu sehen, daß ich mir instinktiv auf die Lippe biß.

Es handelte sich um ein großes, auf Karton kaschiertes, in den Farben der russischen Fahne gehaltenes Plakat. Darauf ein blauer Mann mit gewöhnlichen russischen Gesichtszügen, aufgeschnittener Brust und abgesägter Schädeldecke, unter der das Gehirn offen und blutig zutage lag. Ungeachtet dessen, daß seine Eingeweide aus dem Leib gezogen und lateinisch durchnumeriert waren, blickten die Augen des Mannes stoisch, und ein kleines, stilles Lächeln stand ihm auf den Lippen – was eine Täuschung sein konnte, verursacht durch den breiten Schnitt auf der Wange, der einen Teil des Kiefers und der Zähne freilegte, letztere so tadellos weiß wie auf einer deutschen Zahnpulverreklame.

»Also dann«, brummelte der Herr im Kittel und warf den Hörer auf die Gabel.

»Entschuldigen Sie«, sagte ich, während ich meinen Blick vom Plakat riß und ihm zuwandte.

»Keine Ursache«, sagte er. »Da ich schon meine Gesprächserfahrungen mit Ihnen habe, stelle ich mich am besten gleich noch einmal vor: Professor Kanaschnikow, Timur Timurowitsch.«

»Pjotr Pustota. Leider sehe ich mich außerstande, Ihnen die Hand zu geben.«

»Muß auch nicht sein. Ach Pjotr, ach Pjotr. Wo sind wir da bloß hineingeraten.«

Seine Augen ruhten freundlich und sogar ein wenig mitfühlend auf mir; das keilförmige Kinnbärtchen signalisierte den untadeligen Staatsdiener alter Schule, doch soviel wußte ich von den Winkelzügen der Tscheka, daß mein Mißtrauen sich nicht erschüttern ließ.

»Halb so wild«, sagte ich. »Und wenn Sie die Frage schon so stellen: Ich bin ja nicht der einzige in dieser Lage.«

»So? Wer denn noch?«

Aha, dachte ich, es geht los.

»Sie erwarten von mir irgendwelche Adressen und konspirativen Treffpunkte, nehme ich an? So leid es mir tut, da muß ich Sie enttäuschen. Ich bin in meinem Leben vor Menschen immer nur weggelaufen, und in diesem Kontext figurieren andere Menschen als bloße Kategorie, Sie verstehen?«

»Natürlich«, sagte mein Gegenüber und notierte etwas auf einem Blatt Papier. »Ohne jeden Zweifel. Doch steckt in Ihren Worten ein Widerspruch. Sie sagen einerseits, es gebe Menschen, die seien in derselben Lage wie Sie; andererseits behaupten Sie, von diesen Leuten nichts zu wissen, da Sie immer nur vor ihnen weglaufen.«

»Erlauben Sie«, erwiderte ich und schlug, nicht ohne mein Gleichgewicht zu gefährden, die Beine übereinander, »das ist nur scheinbar ein Widerspruch. Je mehr ich versuche, die Gesellschaft anderer zu meiden, um so weniger gelingt mir das. Der Grund hierfür ist mir, nebenbei gesagt, erst neulich aufgegangen: Ich lief an der Isaak-Kathedrale vorbei, schaute zur Kuppel hinauf – die frostklare Nacht, die Sterne, Sie wissen schon – da wurde es mir schlagartig klar.«

»Was wurde Ihnen klar?«

»Daß man, wenn man vor anderen davonläuft, notgedrungen ein Leben lang ihrem Zickzackkurs folgt. Und sei es nur, um sie sich vom Leib zu halten. Um vor anderen wegzulaufen, muß man nicht wissen, wo man selber hinwill, sondern nur, wo die anderen sind. So ist man gezwungen, sein Gefängnis immerzu vor der Nase zu haben.«

»Stimmt«, sagte der Professor, »da haben Sie recht. Wenn ich mir vorstelle, wieviel Scherereien wir beide damit haben, wird mir ganz anders.«

Ich hob die Schultern und sah hinauf zu dem Plakat über seinem Kopf. Womöglich war es doch nicht als geniale Metapher, sondern als Unterrichtshilfe gedacht. Ein Ausschnitt aus einem anatomischen Atlas vielleicht.

»Wissen Sie«, fuhr Professor Kanaschnikow fort, »man hat ja so seine Erfahrungen. Ich habe es hier mit sehr vielen Leuten zu tun.«

»Oh, das bezweifle ich nicht«, sagte ich.

»Und ich sage Ihnen folgendes. Mich interessiert weniger die formale Diagnose, die ich zu stellen habe, als vielmehr der tieferliegende Grund, weshalb ein Mensch aus seiner normalen psychosozialen Nische kippt. Und da scheint mir Ihr Fall recht klar zu liegen. Sie wollen einfach das Neue nicht akzeptieren. Ihr Alter kennen Sie?«

»Welche Frage. Sechsundzwanzig.«

»Sehen Sie. Da gehören Sie exakt zu der Generation, die für ein Leben in dem einen soziokulturellen Paradigma programmiert war und sich plötzlich in einem völlig anderen wiederfand. Können Sie mir folgen?«

»Und ob.«

»Das heißt, wir haben hier einen ernsthaften inneren Konflikt vorliegen. Ich kann Sie beruhigen – nicht nur Sie haben damit Ihre Schwierigkeiten. Sogar ich schlage mich mit dem gleichen Problem herum.«

»Ach ja?« fragte ich, es sollte etwas höhnisch klingen. »Und wie belieben Sie es zu lösen?«

»Von mir reden wir später«, sagte er. »Jetzt kümmern wir uns erst einmal um Sie. Wie ich schon sagte, betrifft dieser unbewußte Konflikt heutzutage so gut wie jeden. Ich möchte, daß Sie es lernen dahinterzuschauen. Verstehen Sie, die Welt, die um uns ist, widerspiegelt sich in unserem Bewußtsein und wird dort zu einem geistigen Faktum. Und wenn in der Realität irgendwelche althergebrachten Verhältnisse zu Bruch gehen, dann passiert in der Psyche haargenau das gleiche. Wobei im geschlossenen Raum Ihres Ich eine gigantische Menge psychischer Energien frei werden. Das ist wie eine kleine Atomexplosion. Und das Entscheidende ist, wohin all diese Energien nach dem Ausbruch kanalisiert werden.«

Das Gespräch begann interessant zu werden.

»Welche Kanäle kämen da, mit Verlaub, in Frage?«

»Nun, grob betrachtet, gibt es zwei Möglichkeiten. Die psychische Energie kann sozusagen nach außen gehen, in die Welt hinein, kann gerichtet werden auf Objekte wie zum Beispiel … na, sagen wir, eine Lederjacke, ein teures Auto und so weiter. Viele Ihrer Altersgenossen …«

Die Erinnerung an Ernenzoff jagte mir einen Schauer über den Rücken.

»Alles klar. Das müssen Sie nicht ausführen.«

»Wunderbar. Im anderen Fall verbleibt diese Energie aufgrund bestimmter Ursachen im Inneren. Eine denkbar ungünstige Entwicklung. Stellen Sie sich vor, man sperrt einen wilden Stier in einen Museumssaal.«

»Ein treffliches Bild.«

»Danke. Dieser Saal also mit seinen zerbrechlichen und womöglich sehr kostbaren Ausstellungsstücken soll einmal für Ihre Persönlichkeit, Ihre Innenwelt stehen. Und der Stier, der darin umgeht – das ist die freigewordene psychische Energie, die zu zügeln über Ihre Kräfte geht. Das ist der Grund, weshalb Sie hier sind.«