»Er ist wirklich nicht dumm«, dachte ich. »Und ein Schuft ohnegleichen.«
»Ich sage Ihnen noch mehr«, sprach Kanaschnikow weiter. »Ich habe viel darüber nachgedacht, warum die einen imstande sind, ein neues Leben zu beginnen – nennen wir sie einmal die neuen Russen, obwohl ich diesen Ausdruck überhaupt nicht mag.«
»Ein wirklich gräßliches Wort, und verfälscht obendrein. Falls Sie Tschernyschewski zitieren wollen, so sprach er wohl von den neuen Menschen.«
»Mag sein. Die Frage steht nichtsdestoweniger: Wieso zieht es die einen hin zum Neuen, während die anderen ihre ganze Zeit damit zubringen, fiktive Beziehungen zu den Schatten einer versunkenen Welt zu klären?«
»Also das ist nun wirklich großartig gesagt. Klingt fast wie Balmont.«
»Danke, danke. Die Antwort ist aus meiner Sicht sehr einfach. Ich fürchte gar, Ihnen wird sie primitiv vorkommen. Ich hole ein wenig aus. Im Leben eines Menschen, eines Landes, einer Kultur und dergleichen vollziehen sich unentwegt Metamorphosen. Manchmal erstrecken sie sich über größere Zeiträume und bleiben unbemerkt, manchmal nehmen sie sehr krasse Formen an – so wie heute. Wie man zu diesen Metamorphosen steht, macht einen beträchtlichen Unterschied zwischen den Kulturen aus. Wenn wir uns zum Beispiel China vornehmen, nach dem Sie ja ganz verrückt sind.«
»Woher wollen Sie das wissen?« fragte ich und spürte, wie sich hinter meinem Rücken die Fäuste in den straffgezogenen Ärmeln ballten.
»Steht alles hier in Ihrer Akte«, sagte Professor Kanaschnikow und hob den dicksten der vor ihm liegenden Ordner in die Höhe. »Ich hab sie vorhin noch mal durchgesehen.«
Er warf den Ordner zurück auf den Tisch.
»Also die Chinesen. Wie Sie sich entsinnen werden, beruht deren ganze Philosophie auf der Vorstellung, daß die Welt degeneriert, daß sie verfällt aus einem goldenen Zeitalter in immer tiefere Finsternis und Stagnation. Das absolute Maß liegt für sie in der Vergangenheit, und jedwede Neuerungen sind schon deswegen von Übel, weil sie von diesem Maß wegführen.«
»Aber erlauben Sie«, sagte ich, »das ist doch der menschlichen Kultur insgesamt eigen. Das zeigt sich sogar an der Sprache. Im Englischen zum Beispiel. Dort heißt es, wir seien descendants of the past. Dieses Wort bezeichnet den Abstieg, nicht den Aufschwung. Wir sind keine ascendants.«
»Schon möglich«, sagte der Professor. »An Fremdsprachen kann ich nur Latein. Wichtig ist etwas anderes. Verankert sich nämlich dieser Bewußtseinstyp in einem einzelnen Individuum, so wird dieser Mensch seine Kindheit als ein verlorenes Paradies empfinden. Nehmen Sie nur Nabokov. Diese ganze endlose Reflexion über seine frühesten Lebensjahre – ein klassisches Exempel für das, wovon ich rede. Aber ein genauso klassisches Exempel für die Gesundung, die Neuorientierung des Bewußtseins auf die Wirklichkeit – jene, nennen wir es einmal Kontrasublimierung, die er meisterlich bewerkstelligte, indem er seine Sehnsucht nach dem unerreichbaren und vielleicht nie dagewesenen Paradies in eine simple, bodenständige und ein wenig sündhafte Leidenschaft zu einem kleinen Mädchen transformierte. Wobei er ja von Anfang …«
»Pardon, von welchem Nabokov ist die Rede?« fiel ich ihm ins Wort. »Dem Chef der Konstitutionellen Demokraten?«
Kanaschnikow zeigte ein betont nachsichtiges Lächeln.
»Nein«, sagte er, »ich spreche von seinem Sohn.«
»Was denn, der kleine Vladimir von der Tenischew-Schule? Haben Sie den etwa auch … Aber der ist doch längst auf der Krim! Und wieso Mädchen? Was reden Sie da?«
»Schon gut, meinetwegen. Auf der Krim«, sagte der Professor. »Von mir aus auf der Krim. Wir hatten ja von China geredet, nicht von der Krim. Davon, daß die klassische chinesische Mentalität jegliche Vorwärtsbewegung als Abstieg sieht. Und dann gibt es den anderen Weg – den Europa seine ganze Historie hindurch gegangen ist, auch wenn Sie in der Sprache anderes finden mögen. Jenen Weg, den auch Rußland seit Ewigkeiten zu beschreiten versucht, indem es immer und immer wieder die unselige alchimistische Ehe mit dem Westen eingeht.«
»Bemerkenswert formuliert.«
»Danke. Hier sieht man das Ideal nicht in der Vergangenheit, sondern potentiell in der Zukunft angesiedelt. Was der eigenen Existenz sogleich einen Sinn verschafft, Sie verstehen?
Die Idee der Entwicklung, des Fortschritts, der Bewegung vom Unvollkommenen zum Vollkommeneren. Gleiches passiert auf individueller Ebene – auch wenn die persönliche Entwicklung nur so kleine Fortschritte erkennen läßt wie, sagen wir, die Renovierung der Wohnung oder den Kauf eines neuen Autos. Es gibt einem die Möglichkeit weiterzuleben. Sie hingegen wollen in dieses ›Weiter‹ nicht investieren. Der metaphorische Stier, von dem wir sprachen, hetzt durch Ihre Seele und trampelt alles nieder, was ihm in die Quere kommt, nur weil Sie nicht bereit sind, sich der Realität zu stellen. Sie wollen den Stier nicht in die Freiheit entlassen. Sie verachten die Posen, die die Zeit uns abverlangt. Ebendarin liegt der Grund für Ihre Tragödie.«
»Das ist natürlich interessant, was Sie da erzählen, aber etwas sehr konfus«, sagte ich und schielte nach dem an der Wand sitzenden Uniformierten. »Außerdem sind mir die Arme eingeschlafen. Und was den Fortschritt angeht, da könnte ich Ihnen kurz erläutern, was dahintersteckt.«
»Wenn Sie so freundlich wären.«
»Kein Problem. Bringt man das von Ihnen Gesagte auf einen Punkt, so heißt das: Manche Leute passen sich Veränderungen schneller an als andere, basta. Aber haben Sie sich schon einmal gefragt, warum es überhaupt zu Veränderungen kommt?«
Professor Kanaschnikow antwortete mit einem Achselzucken.
»Ich will es Ihnen sagen. Daß es sich leichter lebt für den, der durchtrieben und gewissenlos ist, werden Sie gewiß nicht bestreiten?«
»Keineswegs.«
»Und leichter lebt es sich vor allem dadurch, daß man sich neuen Gegebenheiten schneller anpaßt, ja?«
»Kann man so sehen.«
»Nun gibt es aber ein Ausmaß an gewissenloser Durchtriebenheit, Euer Gnaden, mit Hilfe dessen mancher diese Gegebenheiten schon absieht, bevor sie überhaupt eingetreten sind, wodurch er natürlich anderen gegenüber einen beträchtlichen Vorsprung in der Anpassung erzielt. Mehr noch, die gerissensten Gauner schaffen es sogar, sich Gegebenheiten anzupassen, die noch nicht im entferntesten abzusehen sind.«
»Na und?«
»So kommt es, daß wir Veränderungen in der Welt überhaupt nur diesem Häuflein gerissener Gauner zu verdanken haben. Sie nehmen die Zukunft nicht vorweg, sie gestalten sie – indem sie nämlich immer an den Ort kriechen, von wo der Wind, wie sie glauben, demnächst wehen wird. So daß dem Wind gar nichts weiter übrigbleibt, als sich tatsächlich dorthin zu bequemen und zu blasen.«
»Warum sollte er das?«
»Warum schon. Ich sagte doch, es handelt sich um die widerwärtigsten, schamlosesten, abgefeimtesten Gauner, die man sich vorstellen kann. Denken Sie, die lassen sich nichts einfallen, um alle anderen davon zu überzeugen, daß der Wind von da weht, wo sie gerade hocken? Zumal der Wind, von dem hier die Rede ist, nur idiomatisch weht. Aber ich mache zuviel Worte. Ehrlich gesagt, hatte ich die Absicht, bis zur Exekution überhaupt nicht mehr zu reden.«
Der Uniformierte an der Wand grunzte und warf dem Professor einen vielsagenden Blick zu.
»Ich vergaß vorzustellen«, sagte Kanaschnikow. »Das ist Oberst Smirnow, Militärpsychiater. Er ist in einer anderer Angelegenheit hier, interessiert sich aber auch für Ihren Fall.«
»Sehr erfreut, Herr Oberst«, sagte ich mit leichter Verbeugung.
Der Professor neigte sich über sein Telefon und drückte einen Knopf.
»Sonetschka, vier Kubik bitte, wie üblich«, sprach er in den Hörer. »Gleich hier bei mir, solange er noch in der Jacke ist. Ja, anschließend in den Trakt.«