»Angefangen hat es damit, daß ich an der Uferpromenade spazierengegangen bin.«
»Wo waren Sie vorher gewesen?«
»Vorher nirgends.«
»Gut, erzählen Sie weiter.«
»Ja, also. Ich geh da so lang, und auf einmal ist da um mich so ein Rauch. Ich geh weiter, und es wird immer mehr …«
Ich merkte plötzlich, daß es immer schwieriger wurde, den Worten, die zu mir drangen, einen Sinn abzugewinnen. Ich hatte das Empfinden, als hinge dieser Sinn an Fäden, und diese Fäden würden länger und länger. Ich konnte dem Gespräch nicht mehr folgen. Das war aber nicht schlimm, weil sich vor mir ein verschwommenes Bild abzuzeichnen begann: die in Rauchschwaden gehüllte Uferpromenade, auf ihr entlanggehend eine Frau oder wohl eher ein verkleideter Kerl mit breiten, muskulösen Schultern. Sie hieß Maria, soviel war mir klar, ich konnte sie sehen und sah doch zugleich die Welt mit ihren Augen. Im nächsten Augenblick begriff ich, daß all ihre Gedanken und Gefühle auf unklare Weise bei mir ankamen: So dachte sie zum Beispiel gerade, daß aus dem schönen Spaziergang wohl nichts werden würde, der sonnige Morgen, bei dessen Anbruch sie auf dieser armen Welt erschienen war, hatte sich gewandelt zu Gott weiß was. Und das war so allmählich passiert, daß sie es gar nicht bemerkt hatte.
Die Luft roch zunächst nur ein bißchen brenzlig, und Maria vermutete, daß irgendwo Laub verbrannt wurde. Dann mischte sich der Gestank von verschmortem Gummi hinzu, und ganze Schwaden von Rauch kamen auf sie zugeschwommen, die immer dichter wurden, bis außer der gußeisernen Uferbegrenzung und einigen wenigen Metern im Umkreis nichts mehr zu sehen war.
Bald schon kam es Maria so vor, als spazierte sie durch den schlauchartigen Saal einer Kunstgalerie: Die Segmente der Umgebung, wie sie von Zeit zu Zeit aus dem schwarzen Nebel tauchten, glichen in ihrer abgeschmackten Belanglosigkeit modernen Kunstobjekten. Schilder mit der Aufschrift »Wechselstube« kamen auf sie zu, mit Taschenmessern beschnitzte Sitzbänke, weggeworfene Dosen in großer Zahl – man sah, die junge Generation hielt sich doch größtenteils ans Bier.
Nun tauchten irgendwelche hektischen Menschen mit Maschinenpistolen auf und wieder unter. Sie taten, als bemerkten sie Maria gar nicht, und sie vergolt es ihnen ebenso. Gab es doch genügend andere, die an sie dachten. Wie viele mochten es sein – eine Million? Zehn, hundert Millionen? Maria kannte die genaue Zahl nicht, doch eines wußte sie: Hätten alle Herzen, in die sie sich durch die Gunst des Schicksals hatte stehlen können, plötzlich im Takt geschlagen, so hätte das einträchtige Wummern noch diese ohrenbetäubenden Detonationen von jenseits des Flusses übertönt.
Maria sah um sich, ihre strahlenden Augen wurden schmaclass="underline" Sie wollte wissen, was los war.
Irgendwo in der Nähe – wo genau war des Qualms wegen nicht auszumachen – krachte es in Abständen, worauf jedesmal Hundegebell erscholl und ein vielstimmiger Jubel, wie im Fußballstadion nach einem erzielten Tor. Maria wußte nicht, was sie davon halten sollte – vielleicht wurde dort drüben ein Film gedreht, oder ein paar neue Russen waren dabei zu ermitteln, wer von ihnen der neueste war. Anstatt alles brüderlich zu teilen! dachte Maria seufzend. So aber müssen immer noch mehr dieser schönen jungen Männer auf den Asphalt hinschlagen, und das Blut strömt aus ihren durchschossenen Herzen.
Maria überlegte, wie man die unerträglich schwere Bürde des Lebens all denen erleichtern konnte, die sich wer weiß warum in den schwarzen, Sonne und Himmel verhüllenden Rauchwolken krümmten. Klare, leuchtende, gar nicht hochtrabende Bilder stiegen ihr zu Kopf: wie sie da steht im schlichten Kleid und eintritt in die bescheidene, zu diesem Anlaß von den Mietern hübsch herausgeputzte Wohnung. Da sind sie auch schon – sitzen am Tisch um den Samowar, schauen ihr verliebt in die Augen, und sie weiß, kein Wort ist nötig, es reicht, ihnen gegenüberzusitzen und sie zärtlich anzuschauen, die ratternde Kamera nach Möglichkeit nicht beachtend. Oder so: Ein Krankenzimmer, Menschen im Streckverband, in unbequemen Betten liegend, und ihr Bild hängt an der Wand, so daß es alle sehen können, und sie schauen sie an von ihren Betten und vergessen für ein Weilchen ihr Leid und ihre Schmerzen.
All dies war großartig, und doch spürte sie irgendwie, es reichte noch nicht – nein, in dieser Welt brauchte es Kraft, rohe, unbeugsame Kraft, eine, die notfalls in der Lage war, dem Bösen die Stirn zu bieten. Doch wo nahm man diese Kraft her? Und wie genau mußte sie beschaffen sein? Maria wußte auf diese Frage keine Antwort, sie fühlte nur, dies war es, warum sie hier und jetzt an dieser Uferpromenade, in dieser vom Leid gezeichneten Stadt fürbaß ging.
Ein Windstoß zertrieb für einen Moment den Rauch um sie her, ein Sonnenstrahl traf Maria. Sie schirmte ihre Augen, und plötzlich wußte sie, wo die Antwort zu finden sein würde – natürlich, sie lag in jenen zahllosen Herzen und Hirnen, die sie gerufen und an diesem rauchigen Ufer hatten leibhaftig werden lassen. Sie alle schienen zu einem einzigen Bewußtseinsozean zu verschmelzen, der aus Millionen Augen auf den Bildschirm schaute, und dieser ganze, große Ozean bot sich ihrem Blick offen dar. Maria ließ ihn darüberschweifen und sah zunächst nichts, was hätte helfen können. Aber halt! Sie steckte sehr wohl in diesem Ozean, die allmächtige Kraft, vielfach verkörpert und doch in der Mehrzahl der Fälle immerwiedergleich, so daß sich ein gültiges Bild zusammenfügte: ein junger Mann mit kleinem Schädel und kräftigen Schultern, der einen himbeerroten Zweireiher trug, breitbeinig dastand, vor einem Wagen von langer, niedriger Bauart. Dieses Auto war nur vage und verschwommen zu erkennen, da jene vielen, in deren Seelen Maria blicken konnte, sich hier die verschiedensten Marken vorstellten. Gleiches betraf die Gesichtszüge des jungen Mannes – sie waren nur sehr ungefähr auszumachen, die leicht gelockte, kastanienbraune Kurzhaarfrisur war das einzige, was ein wenig klarer hervortrat. Dafür war der Sakko von außerordentlicher Schärfe, man konnte, wenn man sich etwas Mühe gab, sogar die Aufschrift auf den goldenen Knöpfen lesen. Maria tat dies nicht. Es ging nicht darum, was auf den Knöpfen stand, es ging um die Frage, wie diese unbezwingliche Kraft mit ihrer zarten Liebe zu vereinen war.
Maria hielt inne und lehnte sich gegen einen der Granitpoller, die die einzelnen Abschnitte des gußeisernen Geländers voneinander trennten. Wieder mußte sie Antwort suchen in den Herzen und Hirnen derer, die ihr vertrauten, doch dieses Mal – Maria wußte es ganz genau – konnte sie keine Durchschnittsgedanken brauchen. Etwas anderes mußte her.
Es müßte doch wenigstens ein gescheites Weibsbild darunter sein! dachte sie.
Und dieses gescheite Weibsbild fand sich beinahe augenblicklich. Maria wußte nicht, wie sie hieß, wer sie war und wie sie aussah – was für Sekunden aufblitzte, waren große Bücherregale, ein mit Papieren überladener Schreibtisch, darauf die Schreibmaschine und an der Wand darüber das Foto eines Mannes mit gigantisch geschwungenem Schnurrbart und düsterem Blick – all dies so flackernd, verzerrt und schwarzweiß, als blickte Maria aus dem zigarettenschachtelgroßen Bildschirm eines uralten Fernsehers, der noch dazu nicht in der Mitte des Zimmers, sondern irgendwo in einer Ecke stand. Ohnehin waren die optischen Eindrücke viel zu flüchtig, als daß Maria über das Gesehene hätte nachdenken können, statt dessen kamen die Gedanken zu ihr.
Maria konnte mit dem Wirbelwind von Begriffen, der sich ihr nun darbot, kaum etwas anfangen, zumal er etwas Muffiges, Düsteres an sich hatte – wie die Wolke Staub, die sich erhebt, wenn ein alter Paravent aus der Abstellkammer kippt. Maria schloß daraus, daß es sich um ein stark verunreinigtes, nicht ganz normales Bewußtsein handelte, und sie war sehr erleichtert, als sie es hinter sich hatte. Was als magere Ausbeute in der rosa Blase ihrer Seele hängenblieb, waren einige nicht restlos verständliche Wörter: »die Schöne Dame« (da wußte man noch, wer gemeint war), »die Unbekannte« (dito), alsdann »DER BRÄUTIGAM« (aus unerfindlichen Gründen in Großbuchstaben), sowie »DER GAST« (dito), dahinter hing die rätselhafte Wortgruppe »Alchimistische Ehe« und noch dahinter etwas ganz Unerklärliches: »Ruhen nützt schwerlich. Ich klopfe ans Tor.« Mehr war nicht, danach blitzte nur noch einmal das Photo auf – jenes Mannes mit dem verzückten Blick und dem Riesenschnauzer, der aus der Nase zum Kinn hinunterzuwuchern schien.