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Was ihr hier widerfuhr, war, wie Maria einfiel, die Erfüllung eines Kindertraums. Es gab einen Film, in dem sie ausgiebig über Märchenbüchern saß, die Bilder darin betrachtete und sich ausmalte, wie sie auf dem Rücken eines Drachens oder eines Riesenvogels am Himmel flog – und jetzt geschah ihr ebendies wahrhaftig. Nun ja, vielleicht nicht ganz. Aber, so dachte sie, während sie die Hand an den stählernen Antennenknauf legte, Träume werden immer anders wahr, als man denkt.

Das Flugzeug legte sich ein wenig auf die Seite, und Maria schien es deutlich so, als hätte die Berührung der Antenne damit zu tun gehabt. Überhaupt bewegte sich das Flugzeug auf verblüffende, irgendwie menschliche Weise – und die Antenne schien der empfindlichste Teil an ihm zu sein. Maria führte die Hand den Stahlbolzen entlang und preßte den oberen Teil in ihrer Faust. Die »Harrier« schaukelte nervös mit den Flügeln und gewann noch einige Meter an Höhe. Wie ein ans Bett gefesselter Mann! dachte Maria. Einer, der sie nicht in die Arme schließen durfte, der nichts weiter tun konnte, als sich aufzubäumen. Der Eindruck verstärkte sich noch dadurch, daß sie direkt hinter den Tragflächen saß, die wie gespreizte Beine auf sie wirkten, unglaublich muskulös, doch bewegungsunfähig.

Das war witzig, doch zu spitzfindig für ihren Geschmack. Maria hätte anstelle des stählernen Riesenvogels lieber ein ganz gewöhnliches Klappbett bei den Garagen vorgefunden. Doch mit Schwarzenegger, überlegte sie, war es anders wohl nicht denkbar. Sie schaute zur Kanzel. Man sah nicht viel, in der Scheibe spiegelte sich das Sonnenlicht. Anscheinend saß er in seinem Sessel und drehte den Kopf im Einklang mit den Bewegungen seiner Hände – mal ein wenig nach rechts und mal ein wenig nach links.

Der Roboter neulich im Kino, dachte Maria und legte auch die andere Hand an die Antenne, dieser Metallmann, der seine Form ändern konnte, wie er wollte – was der wohl für einen hatte? Wahrscheinlich je nachdem?

Derweil stieg das Flugzeug immer noch höher. Die Dächer der Häuser lagen weit, weit unten, Moskaus prachtvolles Panorama bot sich Marias Augen dar.

Überall glänzten Kirchenkuppeln, die Stadt wirkte wie eine große, dicht an dicht mit sinnlosen Nieten besetzte Motorradjacke. Die Rauchfahne über Moskau war kleiner, als sie geglaubt hatte, während sie die Promenade entlangging. Nur hie und da wölkte Dunst über den Häusern, wobei nicht immer klar war, ob es dort brannte, ob Fabrikschlote Rauch spuckten oder bloß die Wolken so tief hingen.

Sah man von der Häßlichkeit jedes einzelnen Bestandteils ab, war der Anblick der Stadt außerordentlich schön, wobei der Ursprung von soviel Schönheit unbegreiflich war. So geht es einem mit Rußland! dachte Maria, während ihre Hände den kühlen Stahl entlangglitten. Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt. Und schaut man sich näher an, was einen zum Jauchzen bringt, dann könnte einem auch davon speiübel werden.

Auf einmal ruckte das Flugzeug unter ihr, und sie spürte, daß der Bolzen in ihren Händen seltsam zu rütteln begann. Sie zog die Hände zurück, worauf der Metallknauf mit den Löchern von der Antenne absprang, auf den Rumpf hinab und gleich darauf in die Tiefe fiel; von der gewesenen Herrlichkeit blieb nichts als ein kurzes Rohr mit Gewinde am Ende, aus dem zwei verzwirbelte, abgerissene Drähte hervorschauten, einer rot, der andere blau.

Maria sah zur Kanzel. Hinter der Scheibe war Schwarzeneggers unbewegter weißblonder Nacken zu sehen. Zunächst meinte Maria, er hätte gar nichts mitbekommen. Dann kam ihr der Gedanke, er könnte in Ohnmacht gefallen sein. Als sie konsterniert in die Runde blickte und bemerkte, daß der Bug des Flugzeugs sachte und wie unschlüssig wegzukippen begann, wurde die Vermutung zur Gewißheit. Beinahe ohne zu überlegen, wälzte sie sich von ihrem Platz auf dem Rumpf auf die Plattform zwischen den Tragflächen hinunter (dabei riß ihr der Antennenstumpf ein Dreiangel in die Jacke) und kroch zur Kanzel.

Die Luke war offen. Maria stemmte sich ein wenig von der Tragfläche ab, auf der sie lag, und brüllte:

»Arnie! Arnie!«

Es kam keine Antwort. Zaghaft erhob sie sich auf alle viere und sah Schwarzeneggers Nacken nebst einer im Wind flatternden Strähne.

»Arnie!« rief sie noch einmal.

Schwarzenegger drehte den Kopf zu ihr herum.

»Na Gott sei Dank!« brach es aus Maria hervor.

Schwarzenegger nahm die Brille ab.

Sein linkes Auge war etwas zugekniffen und drückte ein sehr deutlich gegliedertes, wenngleich ungemein kompliziertes Spektrum an Gefühlen aus, worin, streng proportioniert und gut durchmischt, alles seinen Platz hatte: Lebenslust, Stärke, eine gesunde Kinderliebe, moralische Unterstützung für die amerikanische Automobilindustrie in ihrer schwierigen Konkurrenzlage gegenüber Japan, Anerkennung der Rechte sexueller Minderheiten, eine gelinde Ironie in bezug auf den Feminismus sowie die gelassene Zuversicht, daß Demokratie und jüdisch-christliches Wertebewußtsein letztendlich alles Übel dieser Welt in die Knie zwingen würden.

Sein rechtes Auge aber war von ganz anderer Art. Es überhaupt Auge zu nennen fiel schwer. Aus der aufgerissenen Höhle mit Spuren von geronnenem Blut blickte Maria eine glasige runde Linse an, wie man sie vom weißen Star kennt, umrahmt von einer raffinierten metallenen Fassung, zu der, knapp unter der Haut, dünne Drähte führten. Aus dem Zentrum dieser Linse stach ein greller, roter Lichtstrahl hervor – was Maria erst bemerkte, als er sie ins Auge traf.

Schwarzenegger lächelte. Dabei drückte die linke Gesichtshälfte das aus, was Arnold Schwarzeneggers Gesicht auszudrücken hatte, wenn es lächelte – etwas verstohlen Gewitztes, Jungenhaftes, eine Art, die einem sofort klarmachte: Dieser Mann war zu keiner Schlechtigkeit fähig, und wenn er doch einmal ein paar dieser Wichser ins Jenseits beförderte, dann erst, nachdem die Kamera etliche Male und aus verschiedenster Perspektive ihre grenzenlose Niedertracht festgehalten und bewiesen hatte. Doch das Lächeln betraf nur die linke Gesichtshälfte, die rechte blieb davon völlig unberührt – sie war kalt, konzentriert und greulich.

»Arnold«, sagte Maria verwirrt, während sie auf die Füße zu kommen suchte, »Arnold, was soll das? Hör auf damit!«

Doch Schwarzenegger antwortete nicht. Im nächsten Moment begann das Flugzeug sich wieder auf die Seite zu legen, so daß Maria die Tragfläche hinunterrutschte. Dabei schlug sie mit dem Gesicht mehrere Male gegen irgendwelche Ausbuchtungen, bis sie schließlich jeden Halt unter sich verlor. Ich falle! beschied sie sich und kniff die Augen zusammen, um nicht die Baumwipfel und Hausdächer auf sich zurasen zu sehen. Sekunden verstrichen, nichts passierte. Als Maria den Motor nach wie vor neben sich brummen hörte, öffnete sie die Augen einen Spalt.

Da sah sie, daß sie unter der Tragfläche hing – die Kapuze ihrer Jacke hatte sich an irgendeinem unten angeklemmten Pflock verfangen, den sie erst allmählich als Rakete identifizierte. Ihr knolliges Vorderteil war der Antenne, mit der sie Minuten zuvor das Vergnügen hatte, nicht unähnlich, und Maria mußte annehmen, daß Schwarzenegger seine Liebesspielchen mit ihr weitertrieb. Das fand sie ein bißchen arg – gewiß hatte sie schon etliche Blutergüsse im Gesicht, und von ihren zerschundenen Lippen tropfte das Blut.

»Arnold«, schrie sie und ruderte mit den Armen, um ihr Gesicht in Richtung Pilotenkanzel zu drehen, »hör jetzt auf! So macht es mir keinen Spaß! Hörst du? So bitte nicht!«

Endlich gelang es ihr, die Kanzel und Schwarzeneggers lächelndes Gesicht in den Blick zu bekommen.

»So macht es mir keinen Spaß, hörst du? Wenn dir das Spaß macht, mir tut es weh!«

»No?« fragte er zurück.

»Njet! Njet!«

»O. k.«, sagte Schwarzenegger. »You are fired.«

Im nächsten Moment sprang sein Gesicht zurück, und eine unvorstellbare Kraft trug Maria davon, das Flugzeug wurde in wenigen Sekunden zu einem winzigen Silbervogel, der nur noch über eine lange Rauchfahne mit ihr zusammenhing. Maria wandte sich nach vorn und sah die Spitze des Moskauer Fernsehturms Ostankino auf sich zukommen. Die Verdickung in seinem mittleren Teil wuchs ins Immense, und kurz vor dem Aufprall konnte Maria deutlich sehen, wie Leute in weißen Hemden mit Krawatten hinter einem Tisch saßen und verdutzt durch die dicken Scheiben starrten.