Выбрать главу

Glas klirrte, etwas Schweres fiel zu Boden, dann hörte man es heftig weinen.

»Vorsicht, Vorsicht«, sagte Professor Kanaschnikow. »Ja, so ist es gut.«

Als ich begriff, daß keine Fortsetzung folgen würde, öffnete ich die Augen. Ich konnte schon wieder einigermaßen sehen – die Dinge in meiner Nähe waren sogar deutlich erkennbar, nur was weiter weg war, schien verschwommen, und insgesamt kam es mir so vor, als befände ich mich in einer riesigen Christbaumkugel, an deren Innenseite die Außenwelt aufgekleckst war. Vor mir ragten zwei Türme auf: Professor Kanaschnikow und Oberst Smirnow.

»Tja«, kam eine Stimme aus der Ecke, »nun wissen wir, wie sich Arnold Schwarzenegger und Einfach-Maria kennengelernt haben.«

Oberst Smirnow räusperte sich. »Ich möchte«, sagte er zu Professor Kanaschnikow, »auf den deutlich ausgeprägten phallischen Charakter hinweisen, daß der Patient immerzu, ahm, Schwänze sieht. Ist Ihnen das aufgefallen? Die Antenne, die Rakete, der Fernsehturm.«

»Daß ihr Militärs immer so geradezu sein müßt«, entgegnete der Professor. »Das ist doch alles nicht so einfach. Rußland ist mit dem Verstand nicht zu begreifen, wie es so schön heißt, aber die sexuelle Neurose ist auch nicht der Punkt. Immer mit der Ruhe. Wichtig finde ich erst einmal, daß wir einen kathartischen Effekt zu verzeichnen haben, wenngleich in abgeschwächter Form.«

»Stimmt«, sagte der Oberst, »dabei ist sogar der Stuhl zu Bruch gegangen.«

»Genau«, sagte Kanaschnikow. »Will das blockierte pathologische Material an die Oberfläche des Bewußtseins treten, hat es einen starken Widerstand zu überwinden und erscheint daher recht häufig in Begleitung von Unfällen, Zusammenstößen und dergleichen – so wie eben. Das sicherste Anzeichen dafür, daß wir auf dem richtigen Weg sind.«

»Vielleicht ist auch nur die Quetschung schuld?« meinte der Oberst.

»Welche Quetschung?«

»Hab ich Ihnen nicht erzählt, was passiert ist? Als das Weiße Haus unter Beschuß lag, sind ein paar Granaten glatt durchgegangen, durch die Fenster, müssen Sie wissen. Und eine ist ausgerechnet in die Wohnung eingeschlagen, wo zu der Zeit …«

Der Oberst beugte sich zum Professor und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Nur einzelne Satzfetzen drangen zu mir herüber:

»Kann man verstehen … alles kurz und klein … erst bei den Leichen … wollten wir schon plombieren … gucken hin, da rührt sich was … ernstliche Erschütterung, natürlich.«

»Mein Lieber, und da sitzen Sie die ganze Zeit da und sagen nichts? Das ändert das Bild doch gewaltig«, sagte Kanaschnikow vorwurfsvoll. »Lassen mich hier machen und reden …«

Jetzt beugte er sich zu mir herüber, zog mir mit zwei dicken Fingern ein Lid nach oben und spähte in mein Auge.

»Und Sie?«

»Ich weiß nicht recht«, gab ich zur Antwort, »die spannendste Mär in meinem Leben war das nicht gerade. Aber, wie soll ich sagen. Ich finde es amüsant, mit welch traumhafter Leichtigkeit sich dieser Wahn für ein paar Minuten Zutritt zur Realität verschafft hat.«

»Allerhand, nicht wahr?« meinte der Professor, während er sich nach dem Oberst umdrehte.

Der nickte schweigend.

»Ich wollte eigentlich gar nicht Ihre Meinung hören, lieber Freund, sondern bloß wissen, wie es Ihnen geht«, sagte Kanaschnikow.

»Danke, mir geht es ganz gut«, erwiderte ich. »Ich bin bloß ein bißchen müde.«

Das war nicht gelogen.

»Dann schlafen Sie doch.«

Und er drehte mir den Rücken zu.

»Morgen früh«, sagte er zu der unsichtbaren Schwester, »setzen Sie Pjotr bitteschön vier Kubik Taurepam, direkt vor der Wasserbehandlung.«

»Kann man nicht das Radio anstellen?« fragte die leise Stimme aus der Ecke.

Der Professor drehte an einem Schalter an der Wand, nahm den Offizier beim Arm und ging mit ihm zur Tür. Ich schloß die Augen und wußte im selben Moment, daß ich sie so bald nicht mehr aufbekommen würde.

Unterdessen hatte eine traurige Männerstimme zu singen begonnen:

»Nur manchmal denk ich mir, daß die Soldaten,

die nimmer kehrten heim aus blut'ger Schlacht,

ein Grab in schwarzer Erde sich verbaten –

als weiße Kraniche flohn sie die Nacht.«

Kaum waren die letzten Worte aus dem Lautsprecher verklungen, als im Saal ein Handgemenge auszubrechen schien.

»Serdjuk festhalten!« brüllte eine Stimme direkt über meinem Ohr. »Kraniche! Wer hat das eingestellt? Habt ihr's vergessen oder was?«

»Du hast doch verlangt, daß sie das Radio anmachen«, entgegnete eine andere Stimme. »Wir schalten gleich um.«

Es klickte wieder.

»Sind endlich die Zeiten vorbei«, fragte eine einschmeichelnde Stimme von der Decke herab, »da die russische Popmusik als Synonym für Provinzialität herhalten mußte? Urteilen Sie selbst. ›Blinddarmentzündung‹ ist eine reine Frauenband, wie es sie in Rußland selten gibt. Ihr vollständiges Bühnenequipment wiegt soviel wie ein T-90-Panzer. Außerdem sind alle Bandmitglieder lesbisch. Von diesen ultramodernen Eigenschaften einmal abgesehen, spielt ›Blinddarmentzündung‹ im Grunde klassische Musik – wenn auch in durchaus eigener Interpretation. Hören Sie im folgenden, was die Mädels aus einer Melodie des österreichischen Komponisten Mozart gemacht haben, der vielen unserer Hörer aus dem Forman-Film bekannt sein dürfte wie übrigens auch von dem gleichnamigen österreichischen Likör, den unser Sponsor, die Firma ›Das dritte Auge‹, in Rußland vertreibt.«

Eine schauerliche Musik hob an, wie Sturmgeheul im Zuchthausschornstein. Glücklicherweise war ich schon im Versinken. Anfangs plagten mich noch schwermütige Gedanken in bezug auf das, was mir hier geschah; dann aber erfaßte mich ein kurzer Alptraum, in dem die Geschichte von dem Amerikaner mit der Sonnenbrille, die das arme Ding erzählt hatte, sozusagen weiterging.

Der Amerikaner brachte seinen Flieger auf dem Hof zur Landung, übergoß ihn mit Kerosin, das er Gott weiß woher nahm, und zündete ihn an. Ins Feuer flogen der himbeerrote Sakko, die dunkle Brille und die kanarienvogelgelben Hosen, so daß der Amerikaner zum Schluß in knapper Badehose dastand. Er ließ seine prächtig aufgebauten Muskeln spielen und suchte im Gebüsch längere Zeit nach etwas, das er nicht fand. Dann fehlte ein Stück in meinem Traum, und als ich den Amerikaner wiedersah, war er, ehrlich gesagt, schwanger. Die Begegnung mit Maria schien nicht ohne Folgen für ihn abgegangen zu sein. Doch hatte er sich zu diesem Zeitpunkt bereits in eine furchteinflößende Metallfigur mit schematischen Gesichtszügen verwandelt, von deren geblähtem Bauch gnadenlos das Sonnenlicht blitzte.

3

Die an mein Ohr dringende Melodie schien zunächst die Treppe heraufzukommen, dann kurz auf der Stelle zu treten, um sich schließlich verzweifelt in den Treppenschacht zu stürzen – auf einmal nahm man die kurzen Momente von Stille zwischen den einzelnen Tönen wahr. Doch die Finger des Pianisten fingen die Melodie ein, setzten sie wieder auf die Stufen, und alles begann von vorn, nur einen Absatz tiefer. Der Ort, an dem dies geschah, erinnerte an das Treppenhaus auf dem Twerskoi Nummer acht, nur nahm die Treppe im Traum, nach oben wie nach unten, kein Ende. Ich verstand plötzlich, daß jedwede Melodie ihren genauen Sinn hat. Die gerade zu hören war, demonstrierte die metaphysische Unmöglichkeit des Selbstmords – nicht seine Verwerflichkeit, sondern seine Unmöglichkeit. Und außerdem wollte es mir in diesem Moment scheinen, als wären wir alle nur Töne, die einem unbekannten Pianisten unter den Fingern entgleiten, nichts als kleine Terzen, schwebende Sexten, dissonante Septimen in einer grandiosen Sinfonie, die ganz zu hören keinem von uns beschieden ist. Der Gedanke betrübte mich zutiefst; mit Trauer im Herzen tauchte ich aus den bleiernen Tiefen des Traums.