Einige Sekunden brauchte ich, um herauszubekommen, wo ich eigentlich war und was in jener seltsamen Welt vor sich ging, in die mich nun schon sechsundzwanzig Jahre lang allmorgendlich eine geheimnisvolle Kraft hinauskatapultierte. Ich trug eine schwere Jacke aus schwarzem Leder, Reithosen und Stiefel. Etwas drückte mir schmerzhaft in den Oberschenkel. Ich drehte mich auf die Seite und ertastete unter dem Bein die hölzerne Schatulle, in der die Mauserpistole steckte; ich sah mich um. Über mir wölbte sich ein Seidenbaldachin mit gelben Quasten von erlesener Schönheit. Der Himmel draußen vor dem Fenster war wolkenlos blau, und blaßrot schimmerten die Dächer in der kalten Wintersonne. Auf der anderen Seite des Boulevards, genau gegenüber meinem Fenster, war eine blechverkleidete Kuppel zu sehen, die mir im nächsten Moment wie der Bauch einer riesigen, Metall gewordenen Kreißenden erschien.
Plötzlich merkte ich, daß ich die Musik nicht geträumt hatte – sie kam von hinter der Wand. Ich überlegte, wie ich in diesen Raum geraten war, und da traf es mich wie ein elektrischer Schlag: Mir fiel ein, was gestern gewesen war und daß ich mich in Grigori von Ernens Wohnung befand. Ich sprang vom Bett, fegte zur Tür – und stoppte.
Nebenan, in dem Zimmer, wo Grigori von Ernen lag, spielte jemand Klavier, und zwar genau jene Mozart-Fuge in f-Moll, zu der mich den Abend zuvor das Kokain und die Melancholie inspiriert hatten. Mir wurde buchstäblich schwarz vor Augen – ich stellte mir einen Leichnam vor, über den ein Mantel geworfen war, und die Leichenfinger kamen hervor und griffen hölzern in die Tasten; ich begriff, daß der gestrige Alptraum noch nicht zu Ende war. Die Bestürzung, die mich erfaßte, ist schwer zu beschreiben. Ich blickte mich im Zimmer um, sah das große, hölzerne Kruzifix mit dem Leib Christi aus edlem Silber an der Wand, bei dessen Anblick mich ein seltsames Gefühl beschlich, etwas wie ein Déjà-vu – so als wäre mir dieser metallene Körper erst vor kurzem im Traum begegnet. Ich nahm das Kruzifix von der Wand, zog die Mauser aus der Tasche und trat auf Zehenspitzen hinaus in den Korridor. Mein Gedankengang war ungefähr folgender: Wenn man schon davon ausgeht, daß ein Toter Klavier spielen kann, so darf man wenigstens annehmen, daß er das Kreuz fürchtet.
Die Tür des Zimmers, in dem der Flügel stand, war angelehnt. Ich näherte mich ihr, wobei ich so leise wie möglich aufzutreten versuchte, und spähte hinein. Lediglich die Kante des Flügels war zu sehen. Ich atmete ein paarmal tief durch, stieß mit dem Fuß gegen die Tür, daß sie weit aufsprang, und tat einen Schritt in das Zimmer – das schwere Kreuz fest in der einen, die schußbereite Waffe in der anderen Hand. Als erstes sah ich Grigori von Ernens Stiefel aus der Ecke ragen; friedlich ruhte er unter seinem grauen, englischen Leichentuch.
Ich wandte mich zum Flügel um.
Dahinter saß der Mann in der schwarzen Bluse, dem ich tags zuvor im Restaurant begegnet war. Dem Anschein nach um die Fünfzig; geschwungener, buschiger Schnurrbart, angegraute Schläfen. Man konnte den Eindruck haben, daß er mein Erscheinen gar nicht bemerkt hatte – mit geschlossenen Augen, ganz in die Musik vertieft, saß er da. Sein Spiel war allerdings vorzüglich. Auf dem Deckel des Flügels sah ich eine Pelzmütze aus feinstem Karakullammfell mit rotem Moireband und einen bizarr geformten Säbel in prächtiger Scheide liegen.
»Guten Morgen«, sagte ich und ließ die Mauser sinken.
Der Mann hinter den Tasten hob die Lider und maß mich mit einem forschenden Blick. Seine Augen waren schwarz und stechend, ihrem beinahe physischen Druck standzuhalten bereitete mir einige Mühe. Als er das Kreuz in meiner Hand sah, huschte ein Lächeln über seine Lippen.
»Guten Morgen«, sagte er, ohne sein Spiel zu unterbrechen. »Freut mich zu sehen, daß Sie schon frühmorgens ans Seelenheil denken.«
»Was tun Sie hier?« fragte ich und legte das Kruzifix behutsam neben dem Säbel ab.
»Ich versuche mich«, sagte er, »an einem recht schwierigen Stück. Leider ist es für vier Hände geschrieben, und gleich kommt eine Stelle, mit der ich allein nicht zu Rande komme. Würden Sie so freundlich sein, mir zu helfen? Das Stück dürfte Ihnen ja bekannt sein.«
Wie in einer Art Trance steckte ich die Pistole weg, stellte mich neben ihn hin und griff, den Moment abpassend, in die Tasten. Mein Kontrapunkt hechelte dem Thema hinterher, ich verspielte mich mehrfach; dann fiel mein Blick wieder auf Grigori von Ernens gegrätschte Beine, und die ganze Absurdität der Situation wurde mir gewahr. Ich taumelte zur Seite und starrte meinen Besucher an. Der hörte zu spielen auf und saß einige Zeit reglos, wie in Gedanken versunken, da. Dann lächelte er, streckte die Hand aus und ergriff das auf dem Instrument liegende Kruzifix.
»Furchtbar«, sagte er. »Ich habe nie verstanden, warum Gott uns Menschen ausgerechnet in einem häßlichen Menschenkörper erscheinen mußte. Um wieviel angemessener wäre, sagen wir, eine vollkommene Melodie – eine, die man wieder und wieder hören möchte.«
»Wer sind Sie?« fragte ich.
»Ich heiße Tschapajew«, sagte der Fremde.
»Der Name sagt mir nichts«, erwiderte ich.
»Weshalb ich ihn auch benutze«, sagte er. »Für meine Freunde bin ich Wassili Iwanowitsch. Aber das wird Ihnen vermutlich genauso wenig sagen.«
Er stand auf und reckte sich; dabei knackten seine Gelenke vernehmlich. Der dezente Duft eines teuren englischen Eau de Cologne wehte mir entgegen.
»Sie haben gestern in der ›Spieldose‹ Ihr Köfferchen vergessen«, sagte er, und seine schwarzen Augen schienen mich zu durchbohren. »Da ist es.«
Ich blickte zu Boden und sah neben einem Fuß des Flügels Grigoris schwarzes Hebammenköfferchen stehen.
»Ich danke Ihnen«, sagte ich. »Wie sind Sie eigentlich hier hereingekommen?«
»Ich hatte zu läuten versucht«, sagte er, »aber die Klingel funktioniert wohl nicht. Und die Schlüssel steckten. Ich sah, daß Sie schliefen, und beschloß zu warten.«
»Aha«, sagte ich.
In Wirklichkeit verstand ich gar nichts. Wie hatte er erfahren, wo ich zu finden war? Zu wem war er überhaupt gekommen – zu mir oder zu Grigori von Ernen? Wer war er, was wollte er? Und wieso – diese Frage quälte mich am allermeisten – wieso spielte er diese verdammte Fuge? Ahnte er etwas? (Um die bemäntelte Leiche in der Ecke machte ich mir, nebenbei gesagt, die wenigsten Sorgen – in Tschekistenquartieren war dies sozusagen ein üblicher Einrichtungsgegenstand.)
Tschapajew schien meine Gedanken zu lesen.
»Wie Sie gewiß schon vermuten«, sagte er, »ist es nicht nur das Köfferchen, das mich zu Ihnen führt. Ich reise noch heute an die Ostfront, wo ich eine Division zu befehligen habe. Ich benötige einen Kommissar. Der vorige … Nun ja, sagen wir, er hat die in ihn gesetzten Hoffnungen nicht erfüllt. Ich war gestern Zeuge Ihres Agitationseinsatzes, und Sie machten keinen üblen Eindruck auf mich. Babajasin ist übrigens auch sehr zufrieden. Ich möchte, daß Sie in den mir anvertrauten Truppenteilen die politische Arbeit übernehmen.«
Mit diesen Worten knöpfte er die Brusttasche seines Hemdes auf und reichte mir ein doppelt gefaltetes Blatt Papier. Ich entfaltete es und las:
An Gen. Ernenzoff. Auf Befehl des Gen. Dsershinski haben Sie sich umgehend der Verfügung des Kommandeurs der Asiatischen Reiterdivision Gen. Tschapajew zwecks Verschärfung der politischen Arbeit zu unterstellen. Babajasin
Darunter prangte der mir bereits bekannte verwaschene lila Stempel. Wer ist bloß dieser Babajasin? dachte ich verwirrt und hob den Blick.