»Wie darf man Sie denn nun wirklich nennen?« fragte Tschapajew augenzwinkernd. »Grigori oder Pjotr?«
»Pjotr«, sagte ich und leckte mir über die ausgetrockneten Lippen. »Grigori ist mein altes literarisches Pseudonym. Das gibt immerzu Verwechslungen, müssen Sie wissen. Manche nennen mich immer noch Grigori, wie sie es von früher gewohnt sind, andere Pjotr.«
Tschapajew nickte. Er nahm Säbel und Mütze vom Flügel.
»Also, Pjotr«, sagte er. »Mag sein, daß es Ihnen ungelegen kommt, aber unser Zug geht bereits heute. Nichts zu machen. Es ist Krieg. Haben Sie in Moskau vorher noch etwas zu erledigen?«
»Nein«, sagte ich.
»In diesem Fall schlage ich vor, daß wir gemeinsam aufbrechen, und zwar unverzüglich. Gleich geht das Regiment der Weber aus Iwanowo auf Transport, da muß ich hin, und Sie möchte ich gern dabeihaben. Gut möglich, daß Sie schon einen Auftritt bekommen. Haben Sie viel Gepäck?«
»Nur das da«, sagte ich und deutete auf das Köfferchen.
»Hervorragend. Ich werde noch heute anweisen, daß man Sie im Stabswaggon unterbringt und versorgt.«
Er begab sich zur Tür.
Ich nahm mein Köfferchen und trat hinter ihm in den Flur. In meinem Kopf herrschte ein heilloses Chaos. Der Mann, der vor mir den Flur durchquerte, machte mir angst. Ich wußte noch nicht, wer er war – seine Manieren ließen überhaupt nicht an einen roten Kommandeur denken, und doch schien er einer zu sein; außerdem waren Stempel und Unterschrift auf dem heutigen Befehl die gleichen wie gestern. Man durfte daraus schließen, daß dieser Mensch genügend Einfluß besaß, an ein und demselben Morgen bei dem obersten Bluthund Dsershinski und jenem obskuren Babajasin vorzusprechen und günstige Order zu erlangen.
An der Garderobe blieb Tschapajew stehen und nahm einen langen, blauen Mantel vom Haken; quer über die Vorderseite waren drei Streifen von rotschillerndem Moiré genäht. Solche Mäntel galten als der letzte Rotgardistenschrei – üblicherweise waren diese Brustbänder allerdings aus gewöhnlichem roten Fahnentuch. Tschapajew zog den Mantel an, setzte die Mütze auf und schnallte sich den Riemen mit der Pistole um, zuletzt hakte er den Säbel ein und wandte sich zu mir um. Ein seltsamer Orden an seiner Brust fiel mir ins Auge: ein Silberstern mit Kügelchen an den Zackenenden. Kein weiteres Symbol, keine Inschrift, nichts. Tschapajew bemerkte meinen Blick.
»Ein Neujahrsschmuck?« fragte ich.
Tschapajew lachte gutmütig auf.
»Nein«, sagte er. »Das ist der Oktoberstern-Orden.«
»Nie gehört.«
»Mit etwas Glück verdienen Sie sich den auch. Sind Sie so weit?«
Ich beschloß, den Moment zu nutzen, da der Tonfall unseres Gesprächs halbwegs inoffiziell schien. »Genosse Tschapajew«, fing ich an, »ich hätte da eine Frage an Sie, die Ihnen merkwürdig vorkommen mag.«
»Ich höre«, sagte er mit höflichem Lächeln und klopfte mit der langen gelben Stulpe seines Handschuhs rhythmisch gegen die Säbelscheide.
»Sagen Sie ehrlich«, ich blickte ihm direkt in die Augen, »wieso haben Sie Klavier gespielt? Und wieso gerade dieses Stück?«
Tschapajew schmunzelte in seinen Bart.
»Was denken Sie«, sagte er. »Als ich in Ihr Zimmer schaute, da lagen Sie und schliefen und pfiffen so ein bißchen im Traum vor sich hin, und es war – zugegeben, nicht ganz sauber intoniert – diese Fuge. Und ich bin ein großer Mozartfreund, müssen Sie wissen. Ich habe früher am Konservatorium studiert und mich auf eine Laufbahn als Musiker vorbereitet. Aber seither hat sich vieles im Leben verändert. Wieso interessiert Sie das so sehr?«
»Nur so«, sagte ich. »Ein seltsamer Zufall, weiter nichts.«
Wir traten ins Treppenhaus. Die Schlüssel steckten tatsächlich im Schloß. Mechanisch sperrte ich ab, warf die Schlüssel in die Jackentasche und lief hinter Tschapajew die Treppe hinunter Dabei fiel mir ein, daß ich nie im Leben die Angewohnheit besessen hatte zu pfeifen. Schon gar nicht im Traum.
Beim Hinaustreten auf die sonnige, frostige Straße fiel mein Blick als erstes auf den langen, graugrünen Panzerwagen – denselben, den ich am Vortag auf der Straße vor dem Varieté hatte stehen sehen. Solch ein Auto war mir bis dahin noch nicht begegnet – offenbar eine Novität aus den Werkstätten der Vernichtungswissenschaften. Die Außenhaut war dicht an dicht mit groben, halbmondförmigen Nietenköpfen bedeckt; die Motorhaube erinnerte an einen stumpfen Rüssel und war von zwei mächtigen Scheinwerfern flankiert; die stählerne, leicht abgewinkelte Vorderfront schaute mit ihren beiden schrägen Sehschlitzen, die den halbgeschlossenen Augen eines Buddhas glichen, drohend in Richtung Nikitskaja Ploschtschad. Obenauf schließlich der zylindrische Geschützturm; das gegen den Twerskoi-Boulevard gerichtete MG-Rohr war seitlich durch zwei sich nach vorn verjüngende Stahlblenden geschützt. In der Bordwand gab es eine kleine Tür.
Scharen von Kindern umringten das Gefährt – manche mit Schlitten oder auf Schlittschuhen. Während die ausgewachsenen Idioten mit dem Umbau einer imaginären Welt befaßt waren, lebten diese Kinder immerhin noch in der Wirklichkeit: zwischen Schneehaufen im Sonnenlicht, auf den schwarzen Spiegeln zugefrorener Gewässer und in der mystischen Stille zugeschneiter nächtlicher Hinterhöfe. Zwar waren auch diese Kinder bereits vom Bazillus des über Rußland hereingebrochenen Wahnsinns befallen (man sah es an den Blicken, die sie auf Tschapajews blitzenden Säbel und meine Mauserpistole warfen), doch schimmerte in ihren blanken Augen ein Angedenken an etwas, das mir lange entfallen war – vielleicht die unbewußte Erinnerung an den Ursprung allen Seins, von dem sie sich, wiewohl schon eingesunken in des Lebens schändliche Wüsten, noch nicht allzu weit entfernt hatten.
Tschapajew ging zu dem Panzerwagen und klopfte ein paarmal gegen die Bordwand. Sofort sprang der Motor an, und das Hinterteil des Fahrzeugs hüllte sich in eine blaugraue Rauchwolke. Gerade als Tschapajew die Tür öffnete, hörte ich in meinem Rücken Bremsen quietschen. Neben uns kam eine Limousine zum Stehen. Ihr entstiegen vier Männer in schwarzen Lederjacken und verschwanden in demselben Eingang, aus dem wir gerade gekommen waren. Mein Herz begann zu rasen. Sie kommen mich holen! dachte ich. Der Gedanke kam mir wohl deshalb, weil die vier mich an die Schauspieler in den schwarzen Regenmänteln erinnerten, die gestern Raskolnikows Leiche von der Bühne getragen hatten. Einer der Männer blieb in der Haustür stehen und sah zu uns herüber.
»Schneller«, rief Tschapajew mir aus dem Panzerwagen zu. »Sonst wird es hier drinnen zu kalt.«
Ich warf mein Köfferchen ins Wageninnere, kletterte hastig hinterher und schlug die Tür zu.
Das Interieur des düsteren Gefährts begeisterte mich auf Anhieb. Der kleine, durch eine Zwischenwand vom Chauffeur abgetrennte Raum wirkte wie ein Coupé im Nordexpreß – zwei schmale, lederbezogene Bänke, dazwischen ein kleiner Tisch und ein Teppich auf dem Fußboden erzeugten, ungeachtet der Enge, ein Gefühl von Behaglichkeit. In das Dach war ein rundes Oberlicht eingelassen, durch das der massive Sockel des verhüllten Maschinengewehrs zu sehen war; zum Geschützturm hinaufführte eine kleine, durchbrochene Wendeltreppe, die in einer Art Drehstuhl mit Fußstützen endete. Als Beleuchtung diente ein elektrisches Lämpchen, hell genug, um ein Bild betrachten zu können, das an den vier Rahmenecken an die Wand geschraubt war. Es war eine kleine Landschaft im Stile John Constables: Brücke über einen Fluß, Gewitterwolke am Horizont nebst ein paar romantischen Ruinen.
Tschapajew griff nach dem Trichter der Wechselsprechanlage und befahclass="underline"
»Zum Bahnhof.«
Sanft setzte sich der Panzerwagen in Bewegung – man bekam es im Inneren kaum mit. Tschapajew ließ sich auf einer der Bänke nieder, mit einer Handbewegung lud er mich ein, gegenüber Platz zu nehmen.
»Ein phänomenales Fahrzeug«, sagte ich und meinte es durchaus ehrlich.