Beim Spiegel lagen mehrere Bündel auf dem Boden, die nach Schmugglerware aussahen; im Zimmer roch es säuerlich, nach Fußlappen und Schnaps, etliche leere Flaschen standen herum. Ich setzte mich an den Tisch.
Bald darauf knarrte die Tür, und Grigori trat ein. Er legte die Lederjacke ab; das Hemd darunter wirkte betont soldatisch.
»Der Teufel weiß, was die wollen«, sagte er, während er sich setzte. »Ein Anruf von der Tscheka.«
»Arbeitest du für die?«
»So wenig wie möglich.«
»Wie bist du überhaupt in diese Gesellschaft geraten?«
Grigori von Ernen grinste breit.
»Nichts leichter als das. Ein Fünfminutengespräch mit Gorki am Telefon, das war alles.«
»Und die Mauser und das Auto haben sie gleich mitgeliefert?«
»Ach, weißt du«, sagte er, »das Leben ist bekanntlich ein Theater. Wovon aber viel seltener die Rede ist: An diesem Theater wird jeden Tag ein neues Stück gespielt. Und ich stell da jetzt eine Inszenierung auf die Beine, Pjotr, ich kann dir sagen.«
Er hob die Hände über den Kopf und schüttelte sie, als müßte er die Münzen in einem unsichtbaren Beutel zum Klingen bringen.
»Es geht nicht mal um das Stück«, sagte er. »Wenn wir den Vergleich weiter bemühen wollen, dann durfte früher jeder im Saal sein faules Ei auf die Bühne schmeißen. Jetzt aber wird Tag für Tag von der Bühne runtergeschossen, da kann auch schon mal ein Bömbchen fliegen. Und du mußt wissen, was du lieber sein möchtest, mein Lieber: Schauspieler oder Zuschauer?«
Das war eine ernst zu nehmende Frage.
»Was soll ich dazu sagen«, dachte ich laut vor mich hin. »Klingt mir zu sehr nach Stanislawski: Theater fängt schon an der Garderobe an und so. Bei euch hängt man am Ende selber am Haken, schätze ich mal. Und die Zukunft«, dozierte ich und stieß den Zeigefinger in die Luft, »gehört sowieso der Kinematographie!«
Grigori kicherte und schüttelte den Kopf.
»Denk trotzdem über meine Worte nach«, sagte er.
»Versprochen«, erwiderte ich.
Er goß sich einen Wodka ein und trank.
»Puh«, sagte er. »Weil wir grad beim Theater sind. Weißt du, wer neuerdings Theater-Kommissar ist? Madame Malinowskaja. Ihr kennt euch doch, nicht wahr?«
»Nicht daß ich wüßte. Wer war noch mal Madame Malinowskaja?«
Grigori gab einen Seufzer von sich. Er stand auf und lief schweigend durch das Zimmer. Schließlich setzte er sich wieder vor mich hin und sah mir in die Augen.
»Pjotr. Wir reißen hier in einem fort unsere Witzchen, dabei sehe ich doch, daß mit dir was nicht stimmt. Was ist passiert? Wir sind alte Freunde, das ist mal klar, aber davon abgesehen könnte ich dir vielleicht behilflich sein.«
Ich gab mir einen Ruck.
»Ich will dir reinen Wein einschenken. Vor drei Tagen hatte ich in Petersburg unangenehmen Besuch.«
»Wer?«
»Leute aus deinem Theater.«
»Und wieso das?« fragte er und riß die Augen auf.
»Ganz einfach. Drei aus der Gorochowaja waren da, einer hat sich als Literaturfunktionär vorgestellt, die anderen beiden hatten es anscheinend nicht nötig, sich vorzustellen. Das Ganze hat vierzig Minuten gedauert, geredet hat hauptsächlich dieser Funktionär, und am Ende hieß es: Das Gespräch mit Ihnen ist sehr interessant, wir reden an anderer Stelle weiter. Ich hatte aber keine Lust, zu der anderen Stelle hinzugehen, von da kommen bekanntlich die wenigsten wieder.«
»Aber du bist ja offensichtlich wiedergekommen«, unterbrach mich Grigori.
»Irrtum«, sagte ich, »ich bin gar nicht erst mitgegangen. Ich bin abgehauen, Grigori. So wie früher vorm Hauswart, weißt du noch?«
»Aber was wollten sie denn von dir?« fragte er. »Du hast doch mit Politik nichts am Hut. Irgendwas verzapft?«
»Gar nichts. Einfach lachhaft. Ich hab ein Gedicht veröffentlicht, auch noch in der falschen Zeitung, wie sie meinten, da gab es einen Reim, der ihnen nicht gefallen hat: ›Panzerzug‹ und ›wie ein Spuk‹. Kannst du dir das vorstellen?«
»Worum ging es denn in dem Gedicht?«
»Ach, völlig abstrakt. Es ging um den Strom der Zeit, der die Mauern des Jetzt unterspült, und immer neue Muster zeichnen sich darauf ab, wovon wir einen Teil Vergangenheit nennen. Das Gedächtnis will uns glauben machen, daß das Gestern wirklich war, doch woher soll man wissen, ob das Gedächtnis insgesamt nicht erst entstand im ersten Morgensonnenstrahl?«
»Versteh ich nicht ganz«, sagte Grigori.
»Ich auch nicht«, antwortete ich, »aber das ist egal. Ich will damit nur sagen: Das hatte nicht die Bohne mit Politik zu tun.
Zumindest schien es mir bis dahin so. Ihnen schien es anders, das haben sie mir klargemacht. Und das Furchtbare ist, nach dem Gespräch mit diesem Fachberater ging mir ihre Logik plötzlich ein – so tief rein, und ich kriegte einen solchen Schreck, daß ich, als sie mich abführten, weggelaufen bin. Gar nicht mal vor denen, eher vor dem Gedanken, daß …«
Grigori von Ernen runzelte die Stirn.
»Die ganze Geschichte ist Humbug«, sagte er. »Das sind Idioten, soviel ist mal klar. Aber du bist auch gut. Kommst du wegen diesem Quatsch nach Moskau gefahren?«
»Was blieb mir anderes übrig? Ich hab auf der Flucht zurückgeschossen. Dir kann ich vielleicht noch erklären, daß ich auf ein Gespenst geschossen hab, ein Hirngespinst meiner Angst, aber erklär das mal den Tschekisten aus der Gorochowaja. Und selbst wenn ich es erklären könnte, käme mit Sicherheit die nächste Frage: Wieso schießen Sie eigentlich auf Gespenster? Behagen Ihnen die Gespenster nicht, die in Europa umgehen?«
Grigori blickte mich an und verfiel ins Grübeln. Ich schaute auf seine Hände – ganz langsam zog er sie zurück, flach gegen das Tischtuch gepreßt, so als wollte er den ausgebrochenen Schweiß abwischen, dann waren sie plötzlich unter dem Tisch. Verzweiflung stand Grigori im Gesicht geschrieben; ich spürte, daß unsere Begegnung und mein Bericht ihn in eine äußerst peinliche Lage brachten.
»Das ist natürlich schon schlechter«, murmelte er. »Immerhin gut, daß du dich mir anvertraust. Ich denke, die Sache kriegen wir ins Lot. Das kriegen wir hin, das kriegen wir hin. Ich werd gleich nachher Gorki anrufen. Hände hoch!«
Die letzten Worte begriff ich erst, als ich den Pistolenlauf auf dem Tischtuch liegen sah. Und sonderbar: Als nächstes holte Grigori den Kneifer aus der Brusttasche und klemmte ihn sich auf die Nase.
»Hände hoch!« sagte er noch einmal.
»Grigori, was soll das?« fragte ich und hob die Hände.
»Nein«, sagte er.
»Was nein?«
»Waffe und Papiere auf den Tisch, basta.«
»Wie soll ich das machen, wenn ich die Hände oben habe?«
Er spannte den Hahn seiner Pistole.
»Ach herrje«, sagte er, »wenn du wüßtest, wie oft ich diesen Satz schon gehört habe.«
»Na und?« sagte ich. »Der Revolver ist im Mantel. Was bist du für ein unglaublicher Schuft. Aber das wußte ich schon als kleiner Junge. Wozu machst du das alles? Geben sie dir einen Orden dafür?«
Grigori grinste wieder.
»In den Flur«, sagte er.
Als wir im Flur standen, wühlte er, mit der Pistole weiter auf mich zielend, in meinen Manteltaschen, zog den Revolver hervor und steckte ihn ein. Seine Bewegungen hatten etwas verschämt Hastiges, so wie ein Gymnasiast sich benimmt, der zum erstenmal in ein Freudenhaus kommt, und ich fragte mich, ob es vielleicht wirklich zum erstenmal war, daß er eine Schuftigkeit so frech und unverhohlen beging.
»Sperr die Tür auf«, befahl er, »und dann raus auf die Treppe.«
»Laß mich wenigstens den Mantel anziehen«, sagte ich und überlegte fieberhaft, ob ich irgend etwas auf Lager hatte, was diesen von seiner eigenen Niedertracht berauschten Menschen noch umstimmen und den sich abzeichnenden Gang der Dinge aufhalten konnte.
»Wir haben es nicht weit«, sagte Grigori, »nur über die Straße. Aber von mir aus, zieh ihn an.«