Выбрать главу

»Bist du Ernenzoff?« fragte der Ältere mit dem Schnurrbart.

»Ja.«

»Da nimm!« sagte der Matrose und hielt mir ein doppelt gefaltetes Stück Papier hin.

Ich steckte die Mauser zurück und entfaltete es.

»Genosse Ernenzoff! Fahren Sie unverzüglich zur Spieldose, und setzen Sie dort unsere Linie durch. Zur Verstärkung schicke ich Sherbunow und Barbolin mit. Erfahrene Genossen. Babajasin«

Der Stempel unter dem Text war nicht zu entziffern. Während ich noch überlegte, was zu sagen war, hatten die beiden schon am Tisch Platz genommen.

»Ist das dort unten euer Chauffeur?« fragte ich.

»Genau«, sagt der Schnurrbärtige. »Wir nehmen aber dein Auto. Wie war noch mal dein Name?«

»Pjotr«, sagte ich und hätte mir im selben Moment beinahe die Zunge abgebissen.

»Ich bin Sherbunow«, sagt der Alte.

»Barbolin«, stellte sich der Jüngere vor. Seine Stimme war sanft, beinahe wie die einer Frau.

Ich setzte mich ihnen gegenüber. Sherbunow goß drei Gläser Wodka ein, reichte mir eines davon und blickte mich an. Mir schien, er wartete auf etwas.

»Also«, sagte ich und hielt mich an dem Glas fest, »auf den Sieg der Weltrevolution, wie man so sagt!«

Mein Toast schien sie nicht sonderlich zu begeistern.

»Mit dem Sieg, das geht schon klar«, sagte Barbolin. »Wie steht's mit dem Schnee?«

»Welchem Schnee?« fragte ich und sah aus dem Fenster.

»Spiel nicht den Doofen«, wies mich Sherbunow streng zurecht. »Babajasin hat uns gesagt, du hättest heute ein Döschen abbekommen.«

»Ach so, ihr redet von Kokain!« erriet ich und holte das Döschen aus dem Koffer. »Schnee ist ein gar vieldeutiges Wort, Genossen. Woher soll ich wissen, daß euch nicht nach den Schneemasken von Alexander Block gelüstet.«

»Wer ist das?« fragte Barbolin, während er das Blechdöschen in seine breite, grobe Hand nahm.

»Ein Petersburger Genosse.«

»Hm«, brummte Sherbunow argwöhnisch, während sich in Barbolins Gesicht sekundenlang jene Empfindung spiegelte, die die russischen Maler des neunzehnten Jahrhunderts, wenn sie Typen aus dem Volk darstellten, mit Vorliebe auf ihren Bildern verewigten: Da gibt es irgendwo die große, rätselhafte Welt und so viel Unbegreifliches und Lockendes in ihr – nicht, daß du etwa im Ernst dort hinwolltest, nein, aber dann und wann so ein bißchen vom Unerfüllbaren träumen, das magst du gern.

Alle Anspannung war wie weggeblasen. Sherbunow öffnete das Döschen, nahm ein Messer vom Tisch, schaufelte damit eine beängstigende Menge des Pülverchens und rührte es flink in den Wodka. Barbolin tat es ihm nach – zuerst mit seinem Glas, dann mit meinem.

»Jetzt kann man auf die Weltrevolution anstoßen, ohne sich zu schämen!« sagte er.

Mir stand wohl der Zweifel im Gesicht geschrieben, denn Sherbunow sagte grinsend:

»Alter Brauch vom Kreuzer ›Aurora‹, mein Junge, aus erster Quelle sozusagen. Nennt sich baltischer Tee.«

Sie hoben das Glas, kippten den Inhalt in einem Zug hinter, und mir blieb nichts weiter übrig, als ihrem Beispiel zu folgen. Der Hals wurde mir fast augenblicklich taub. Ich steckte eine Papirossa an, tat einen tiefen Zug, konnte den Rauch aber nicht schmecken. Etwa eine Minute lang saßen wir schweigend.

»Wir müssen«, meinte Sherbunow plötzlich und stand vom Tisch auf. »Iwan friert sonst fest.«

In seltsamer Erstarrung steckte ich das Bonbondöschen zurück in den Koffer, erhob mich und ging den beiden nach. Eine Weile suchte ich im Korridor nach meiner Mütze, fand sie nicht und setzte mir deshalb Grigori von Ernens Schirmmütze auf. Wir verließen die Wohnung und stiegen wortlos die im Halbdunkel liegende Treppe hinab.

Auf einmal wurde mir bewußt, wie ruhig ich war, wie leicht ich mich fühlte – je weiter ich ging, um so ruhiger und leichter. Mich scherte nicht, was da auf mich zukam, es reichte mir, daß nicht unmittelbar Gefahr drohte, und während ich durch das düstere Treppenhaus lief, freute ich mich an der Pracht der Schneeflocken, die draußen vor den Scheiben tanzten. Wenn man es recht bedachte, war ich selbst nichts anderes als eine Schneeflocke, und der Wind des Schicksals trug mich vorwärts, den zwei anderen Schneeflöckchen hinterdrein, die in ihren schwarzen Jacken die Treppe hinunterstapften. Im übrigen hinderte mich die plötzlich hereingebrochene Euphorie nicht daran, nüchtern meine Umgebung zu betrachten, wobei ich eine interessante Beobachtung machte. Schon in Petersburg hatte ich mich immer gefragt, wie sich die schweren, gefüllten Patronengurte auf den Leibern der Matrosen hielten. Auf dem Treppenabsatz zur zweiten Etage, wo eine einsame Glühlampe brannte, entdeckte ich auf Sherbunows Rücken mehrere Häkchen, mit denen die MG-Streifen nach dem Büstenhalterprinzip aneinanderhingen. Ich malte mir aus, wie Sherbunow und Barbolin, zwei Fräuleinchen im Schwimmbad gleich, einander bei ihrem schwierigen Ankleidemanöver halfen, wenn das nächste Morden anstand. Ein weiterer Beweis für die weibliche Natur aller Revolutionen, wie mir schien. Plötzlich konnte ich ein paar von Alexander Blocks jüngsten Launen nachvollziehen. Dabei entrang sich meiner Kehle wohl ein emphatisches Stöhnen, denn Barbolin wandte sich um.

»Und du Esel wolltest erst nicht«, sagte er, sein Goldzahn blitzte.

Wir traten hinaus auf die Straße. Barbolin sagte etwas zu dem auf der Vorderbank des Wagens sitzenden Soldaten, öffnete den Schlag, und wir zwängten uns hinein. Das Auto fuhr augenblicklich an. Durch das in den Ecken abgerundete vordere Kabinenfenster sah man den verschneiten Rücken und die spitze Filzmütze des Fahrers; man hätte meinen können, daß ein Ibsenscher Troll unseren Trupp chauffierte. Die Konstruktion des Wagens war äußerst unkomfortabel und wohl auch demütigend für den, der fuhr und Wind und Wetter schutzlos ausgesetzt war – vielleicht war dies absichtlich so gemacht, damit die Fahrgäste sich nicht nur am Blick durch das Fenster in die schöne Natur, sondern auch am Klassenunterschied weiden konnten.

Ich sah zum Seitenfenster hinaus. Die Straße war leer und der auf das Pflaster niedergehende Schnee ungewöhnlich schön. Nur hin und wieder beschienen Laternen die weiße Pracht; eine von ihnen warf Licht auf ein schwungvoll gemaltes Graffito an einer Hauswand: LENINE EST MERDE.

Als der Wagen bremste, war ich schon wieder ein wenig nüchterner. Wir krochen hinaus auf eine Straße, die ich nicht kannte; vor uns ein unscheinbarer Eingang, in dessen Nähe zwei, drei Autos und ein paar Droschken parkten; etwas weiter entfernt sah ich einen furchterregenden Panzerwagen mit Schneehäubchen auf dem Geschützturm stehen; ehe ich ihn näher in Augenschein nehmen konnte, waren meine beiden Matrosen schon im Hausflur verschwunden. Wir durchquerten einen unaussprechlich deprimierenden Hof und standen alsbald vor einer Tür, über der ein kleines gußeisernes Schutzdach mit Schnörkeln und feisten Amoretten prangte. Daran hing ein kleines Schild:

SPIELDOSE

Literarisches Cabaret

Mehrere mit rosaroten Vorhängen verhüllte Fenster gleich neben der Tür waren erleuchtet; der schwermütige Wohlklang eines fremdartigen Instruments drang zu uns heraus.

Sherbunow riß die Tür auf. Dahinter lag ein kurzer Gang, der voller schwerer Pelze und Mäntel hing; an seinem Ende gab es eine dicke Samtportiere. Ein Mann mit Verbrechergesicht im roten Stehkragenhemd erhob sich von seinem Schemel und eilte auf uns zu.

»Genossen Matrosen«, begann er, »wir haben …«

Mit einer artistischen Bewegung ließ Barbolin sein Gewehr von der Schulter schwingen und stieß dem Mann den Kolben in den Unterleib. Der Arme flog gegen die Wand und rutschte von da auf den Fußboden; Abscheu und Überdruß malten sich auf seinem bösen Gesicht. Sherbunow zog den Vorhang beiseite, und wir traten in den schummrigen Saal.