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Sofort, noch im ersten Umsehen, spürte ich einen überraschenden Zustrom von Energie. Die Lokalität machte den Eindruck eines durchschnittlichen Mittelklasserestaurants, das einen gewissen Schick für sich in Anspruch nahm. An den kleinen, runden Tischen saß zwischen dichten Rauchschwaden ein recht buntes Publikum. Irgendwer schien Opium zu rauchen.

Auf uns achtete niemand, und wir nahmen an einem leeren Tischchen unweit des Eingangs Platz.

Vorn im Saal war eine hellerleuchtete Bühne, dort saß auf einem mit schwarzem Samt bezogenen Schemel, die Beine übereinandergeschlagen, ein kahlköpfiger, befrackter Herr. An einem Fuß fehlten Strumpf und Schuh. Der Geigenbogen in der rechten Hand des Künstlers fuhr über die stumpfe Seite einer langen Blattsäge. Einen der Griffe preßte er mit dem Fuß gegen den Boden, während er den anderen in der linken Faust gepackt hielt und die Säge damit bog und zum Schwingen brachte. Wollte er das Vibrato seines blitzenden Sägeblatts dämpfen, drückte er kurz mit dem bloßen Fuß dagegen; der schwarze Lackschuh, aus dem ein blendend weißer Socken hervorschaute, stand in der Nähe. Der Klang, den der Herr seinem Instrument entlockte, war nicht von dieser Welt, betörend und wehmütig; der Mann schien irgendeine simple Melodie zu spielen, doch auf sie kam es nicht an – alles hing am Timbre, an den Modulationen des einzelnen, langsam ersterbenden Tones, der einem direkt zu Herzen ging.

Die Portiere am Eingang bewegte sich, und der Mann im roten Hemd schob sich herein. Er schnipste mit den Fingern ins Dunkle und deutete auf unseren Tisch, dann drehte er sich zu uns herum, tat eine knappe, förmliche Verbeugung und verschwand wieder hinter dem Vorhang. Sofort tauchte von irgendwoher ein Kellner auf, mit Tablett in der einen und Kupferteekessel in der anderen Hand (solche Kessel standen auch auf den anderen Tischen). Auf dem Tablett waren ein Teller Piroggen, drei Teegläser und eine winzige Trillerpfeife. Der Kellner baute die Gläser vor uns auf, goß aus dem Kessel ein und verharrte erwartungsvoll. Ich reichte ihm eine Banknote, die ich aufs Geratewohl aus dem Köfferchen gezogen hatte – ich glaube, es war ein Zehndollarschein. Wozu die Pfeife auf dem Tablett lag, war mir zunächst unklar, doch da ertönte von einem der Nachbartische ein leiser, melodischer Pfiff, und der Kellner eilte ihm entgegen.

Sherbunow nippte aus seinem Glas und brummte unzufrieden vor sich hin. Ich tat einen Schluck aus meinem. Es war Chansha, schlechter chinesischer Hirsebranntwein. Ich nahm eine Pirogge und fing an zu kauen, obwohl ich keinerlei Geschmack spürte – das Kokain, das meinen Gaumen narkotisiert hatte, wirkte noch.

»Was ist in den Piroggen drin?« fragte Barbolin mit seiner sanften Stimme. »Soll vorkommen, daß Leute von hier verschwinden. Zuviel Gefräßigkeit könnte einem leid tun.«

»Ich hab schon probiert«, sagte Sherbunow ungerührt. »Schmeckt wie Rindfleisch.«

Den Gedanken weiterzuspinnen fehlte mir die Kraft; ich holte das Döschen hervor, und Barbolin übernahm es, drei gerechte Portionen in die Gläser zu verteilen.

Unterdessen war der Mann im Frack mit seinem Spiel zu Ende gekommen, flink und elegant zog er Strumpf und Schuh an, stand auf, verbeugte sich, ergriff seinen Schemel und verließ unter spärlichem Applaus das Podium. An einem Tisch gleich neben der Bühne erhob sich ein würdiger graubärtiger Herr, um dessen Hals, wie um eine Bißwunde zu verbergen, ein grauer Schal geschlungen war. Verblüfft erkannte ich in ihm den gealterten, abgemagerten Dichter Waleri Brjussow. Er stieg auf die Bühne und wandte sich an den Saaclass="underline"

»Genossen! Zwar leben wir heute in einer visuellen Epoche, wo die auf Papier abgesetzte Textzeile verdrängt wird von einer halben Bildfolge, um nicht zu sagen, hä …« – hier rollte er mit den Augen, machte eine Pause, und es war klar, daß man jetzt auf einen seiner idiotischen Kalauer gefaßt sein mußte – »um nicht zu sagen, von den Folgen der Halbbildung, hä …, doch gibt die Tradition nicht klein bei und sucht sich neue Formen. Dostojewskis unsterbliche Helden inspirieren die jungen Heißsporne nach wie vor, gleich, ob mit oder ohne Hackebeil. Was Sie heute abend sehen werden, darf ich als markantes Beispiel für die Kunst des egoumbilizistischen Postrealismus bezeichnen. Zur Aufführung kommt eine kleine Tragödie, in einem, hä … in einem Schuß, hä, geschrieben von Kammerdichter Johann Pawluchin, der höchstselbst sein Werk dem tragödischen Fach zugeordnet sehen möchte. Erleben Sie also nun die kleine Tragödie ›Raskolnikow und Marmeladow‹. Bitteschön.«

»Bitteschön«, echote Sherbunow, und wir tranken.

Brjussow ging ab und kehrte zu seinem Tisch zurück. Zwei Männer in Militäruniform trugen eine riesige vergoldete Lyra mit Ständer aus den Kulissen heraus auf die Bühne, dazu einen Schemel. Anschließend brachten sie einen Tisch, stellten eine bauchige Likörflasche nebst zwei Gläsern darauf ab und hängten am Bühnenhintergrund zwei Pappschilder mit den Namen »Raskolnikow« und »Marmeladow« auf (die Endungen wieder in alter Schreibweise, eine noch dazu falsch, und ich entschied sofort, daß dies absichtlich so dastand und eine symbolische Bedeutung hatte), dazwischen kam noch ein Schild mit der rätselhaften, auf ein blaues Fünfeck gemalten Inschrift ЙХВЙ. Nach getaner Arbeit verschwanden die beiden Männer. Eine Frau im langen Chiton trat aus den Kulissen, setzte sich an die Lyra und begann bedächtig die Saiten zu zupfen. So vergingen einige Minuten.

Dann traten vier Männer in langen, schwarzen Mänteln auf. Ein jeder kniete in Schützenstellung nieder und hob den schwarzen Mantelsaum, um sein Gesicht vor den Zuschauern zu verbergen. Jemand klatschte. Zu beiden Seiten der Bühne erschien je eine Gestalt auf hohen Kothurnen, mit langem weißen Chlamys und griechischer Maske. Die beiden schritten langsam aufeinander zu und verharrten, ehe sie sich ganz erreicht hatten. Dem einen hing an rosenumrankter Schlaufe ein Beil an der Seite, und ich verstand, das sollte Raskolnikow sein. Wobei man es auch ohne Beil hätte verstehen können, denn auf seiner Höhe hing das Schild mit dem Namen. Der Schauspieler, der vor dem Schild »Marmeladow« Aufstellung genommen hatte, hob langsam die Hand und begann in hohem, singendem Tonfalclass="underline"

»Also, ich bin Marmeladow. Mal eben

ganz im Vertrauen: Fi-ni-to. Juchhei!

Ich hab so manches gesehen im Leben,

aber ein Lichtblick war niemals dabei.

Falls Euch nicht stört, daß ich mich offenbare,

und Euch der Mief armer Leute nicht schreckt:

Wollt Ihr ein Schlückchen vom Branntwein?« –

»Bewahre!«

Die Antwort des mit dem Beil bewaffneten Mimen erfolgte mit ebenso singender Stimme, allerdings im Baß; dabei hob er die Hand und streckte sie Marmeladow abwehrend entgegen, welcher sich hastig etwas ins Glas goß und durch das Loch in der Maske kippte, worauf er fortfuhr:

– »Dann eben nicht. Sehr zum Wohl! Mit Respekt:

Ihr seid ja auch nicht ganz koscher, vermut ich.

Zugeknöpft scheint Euer lächelnder Mund,

Blaß ist die Stirn, und die Hände sind blutig.

Sei's drum! Ich sah jedenfalls keinen Grund,

in meinem Innern die gähnende Leere,

in meinem Kopf das gefräßige Loch

hinter Blasiertheit und …« – »Habe die Ehre!«

– »… Schliff zu verstecken. He, wartet doch noch!«

Sherbunow stieß mich mit dem Ellbogen in die Seite. »Wollen wir?« fragte er leise.

»Es ist noch zu früh«, erwiderte ich flüsternd. »Sehen wir weiter.«

Sherbunow nickte ehrerbietig. Das Geschehen auf der Bühne ging seinen Gang, Marmeladow sprach: