»Stimmt«, sagte Sherbunow.
»Na also«, sagte ich, »darum gehst du mit Barbolin jetzt hinter die Kulissen. Und ich geh auf die Bühne, die Linie durchsetzen. Wenn ich damit fertig bin, geb ich das Signal, und ihr kommt raus. Wir führen denen jetzt mal die Musik der Revolution vor.«
Sherbunow klopfte mit dem Finger an sein Glas.
»Nein, Sherbunow«, sagte ich hart, »du kannst sonst nicht arbeiten.«
In Sherbunows Blick flammte etwas auf, das wie Kränkung aussah.
»Wie kommst du darauf?« flüsterte er. »Traust du mir nicht? Ich … ich tät' mein Leben geben für die Revolution!«
»Ich weiß, Genosse«, sagte ich, »aber Kokain gibt's hinterher. Vorwärts.«
Die Matrosen standen auf und gingen zur Bühne – mit festen, ausladenden Schritten, so als hätten sie nicht dieses Parkett, sondern das schwankende Deck eines in Sturm geratenen Panzerkreuzers unter den Füßen; in diesem Moment empfand ich für sie beinahe so etwas wie Sympathie. Über das seitliche Bühnentreppchen verschwanden sie hinter den Kulissen. Ich kippte mir den Rest Chansha mit Kokain in den Rachen, stand gleichfalls auf und ging zu dem Tisch, an dem Tolstoi und Brjussow saßen. Das erregte Aufsehen. Herrschaften und Genossen! dachte ich, während ich gemessenen Schrittes den merkwürdig unruhig gewordenen Saal durchquerte, auch ich hatte heute die Ehre, über eine gewisse Leiche zu gehen, doch es wird euch nicht gelingen, mir mit ihren eingebildeten Händen die Luft abzudrücken. Ach, soll doch der Teufel diesen ewigen Dostojewski holen, diese unendliche Heimsuchung des russischen Menschen! Und den russischen Menschen gleich mit, der nichts anderes um sich wähnt als immer nur Dostojewski!
»Guten Abend, Herr Brjussow! Gönnen Sie sich ein bißchen Erholung?«
Brjussow zuckte zusammen und starrte einige Sekunden, ohne mich gleich zu erkennen. Dann erschien auf seinem eingefallenen Gesicht ein ungläubiges Lächeln.
»Pjotr«, fragte er, »sind Sie das? Freut mich von Herzen, Sie zu sehen. Setzen Sie sich doch ein Momentchen zu uns.«
Ich nahm Platz. Etwas verlegen begrüßte ich Tolstoi – wir kannten uns kaum, obwohl wir uns in der Redaktion des »Apollo« öfters begegnet waren. Tolstoi war völlig betrunken.
»Wie geht's?« fragte Brjussow. »Haben Sie etwas Neues geschrieben?«
»Keine Zeit für so was, Herr Brjussow.«
»Ja«, sagte Brjussow gedehnt, während seine Augen über meine Lederjacke mit der Mauser huschten, »das ist wohl wahr. Mich hat es ja auch … Aber ich wußte gar nicht, daß Sie zu uns gehören, Pjotr. Ihre Gedichte habe ich immer sehr geschätzt, besonders Ihr erstes Bändchen, die ›Verse des Hauptmann Lebjadkin‹, na, und natürlich die ›Gesänge vom Königreich Ich‹. Aber man konnte ja nicht ahnen, daß … Sie hatten es ja immer so mit Pferden und Kaisern und diesem ganzen China.«
»Conspiration, Herr Brjussow«, sagte ich. »Das Wort klingt vielleicht ein bißchen übertrieben, nur …«
»Verstehe«, sagte Brjussow, »verstehe vollkommen. Aber so etwas habe ich immer geahnt, das können Sie mir glauben. Sie haben sich jedenfalls verändert, Pjotr. So ungestüm … Diese blitzenden Augen … Haben Sie übrigens schon die ›Zwölf‹ von Block gelesen?«
»Hab's mir angeschaut.«
»Und, was meinen Sie?«
»Die Symbolik des Finales leuchtet mir nicht ganz ein«, sagte ich, »wieso muß ausgerechnet Christus der rotgardistischen Patrouille vorangehen? Will Block die Revolution etwa ans Kreuz nageln?«
»Jaja«, sagte Brjussow hastig, »darüber haben Aljoscha und ich auch gerade gesprochen.«
Als Tolstoi seinen Namen hörte, öffnete er die Augen und ergriff sein Glas, das leer war. Er tastete auf dem Tisch nach der kleinen Pfeife und setzte sie an die Lippen, doch es kam kein Pfiff, statt dessen fiel ihm der Kopf wieder auf die Brust.
»Dem Vernehmen nach«, sagte ich, »hat er den Schluß schon geändert. Jetzt läuft ein Matrose vornweg.«
Brjussow dachte einen Augenblick nach, dann sprühten seine Augen.
»Ja«, sagte er, »das ist echter. Das ist präziser. Und Christus geht hinten! Er ist unsichtbar und geht am Ende, schleift sein schiefes Kreuz durch die Schneewehen!«
»Ja«, sagte ich. »Und er geht noch dazu in die falsche Richtung.«
»Meinen Sie?«
»Da bin ich mir sicher«, sagte ich und dachte daran, daß Sherbunow und Barbolin hinter dem Vorhang bestimmt schon eingeschlafen waren. »Herr Brjussow, ich hab eine Bitte an Sie. Könnten Sie bekanntgeben, daß als nächstes der Dichter Ernenzoff revolutionäre Gedichte liest?«
»Ernenzoff?« fragte Brussow nach.
»Mein Parteideckname«, erläuterte ich.
»Ach so«, nickte Brjussow, »das ist originell! Da bin ich selbst ganz Ohr.«
»Das würde ich Ihnen nicht raten. Besser wäre, Sie verließen sofort das Lokal. Hier gibt es gleich eine kleine Schießerei.«
Brjussow wurde blaß und nickte. Weiter fiel kein Wort. Als die Säge verklungen war und der Frackträger seinen Schuh wieder angezogen hatte, stand Brjussow auf und erklomm die Bühne.
»Es war heute«, sprach er, »schon von der allerneuesten Kunst die Rede. Einen weiteren Beitrag zu diesem Thema entbietet uns nun der Dichter Ernenzoff« – Brjussow konnte sich nicht zurückhalten und rollte wieder mit den Augen – »hä, nicht zu verwechseln, bitteschön, mit Erika von Heidenzoff, hä, also, der Dichter Ernenzoff mit seinen revolutionären Versen hat das Wort. Bitteschön!«
Geschwind kam er herunter, zeigte ein zerknirschtes Lächeln und hob die Hände, dann packte er Tolstoi, der sich nur schwach zur Wehr setzte, beim Kragen und zerrte ihn zum Ausgang. In diesem Moment glich er einem pensionierten Lehrer, der einen widerspenstigen, dummen Wolfshund an der Leine hinter sich herzog.
Ich betrat die Bühne. Vorn am Rand stand noch der Samtschemel, der mir sehr zupaß kam. Ich stellte den bestiefelten Fuß darauf und blickte hinunter in den verstummten Saal. Die Gesichter, die ich erkennen konnte, verschmolzen zu einem einzigen, das liebedienernd und nichtsdestoweniger frech zu mir heraufsah, eine erstarrte Grimasse unterwürfiger Selbstzufriedenheit – es war, ganz ohne allen Zweifel, das Gesicht der alten Wucherin, von anderem Fleisch und Blut zwar, doch lebendig wie ehedem. Unweit der Bühne saß Johann Pawluchin, ein langmähniger Kretin mit Monokel; neben ihm, piroggenkauend, ein pickliges, dickes Frauenzimmer mit großen roten Schleifen in den scheckigen Haaren – anscheinend war das Madame Malinowskaja, die Theater-Kommissarin. Wie ich sie alle haßte in diesem langen Augenblick!
Ich zog die Mauser aus dem Gürtelhalfter, hob sie über den Kopf, dann räusperte ich mich, setzte ein ausdrucksloses Gesicht auf und las, wie ich es von früher gewohnt war, ohne jede Betonung, nur mit kurzen Pausen zwischen den Quartetten, das gerade geschriebene Gedicht von dem Tschekaformular ab.
Revolutionäres Kampfsonett
Genossen Kämpfer! Unsere Trauer ist grenz-
enlos. Gemeuchelt wurde Genosse Ernen-
zoff. So steht unsere operative Tscheka
mit einem guten Bolschewiken weniger da.
Die Sache war so. Er kam vom Vollstrek-
ken, und als er sich eine Zigarette ansteck-
te, zog ein konterrevolutionärer Hampelmann
seine Pistole und legte an.
Genossen! Es dröhnte ein Schuß aus der Mau-
ser. Er traf in die Stirne. Ernenzoff sah rot.
Zerquetschen wollte er diese Laus noch.
Doch er fiel um und war mausetot.
Genossen Kämpfer! Schließt die Reihen, Schluß mit
dem Geplärre!