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Krieg dem weißen Gesindel! Wir singen den revolutionären

Terror!

Mit diesen Worten schoß ich auf den Kronleuchter, der Schuß ging daneben.

Doch umgehend krachte es zu meiner Rechten noch einmal, der Kronleuchter barst, und ich sah Sherbunow, neben mir kniend, sein Gewehr nachladen. Er gab noch ein paar Schüsse in den Zuschauerraum ab, wo die Leute bereits schrien, zu Boden fielen und sich hinter den Säulen versteckten, als Barbolin aus den Kulissen trat. Schwankend lief er nach vorn zum Bühnenrand, jaulte auf und schmiß eine Handgranate in den Saal. Ein grellweißer Blitz flammte auf, es donnerte gewaltig, ein Tisch kippte um; in der Stille, die darauf eintrat, hörte man ein verwundertes Stöhnen. Eine peinliche Pause entstand; um sie halbwegs zu überbrücken, schoß ich noch ein paarmal an die Decke und sah plötzlich wieder diesen seltsamen Mann in der schwarzen Bluse am Tisch sitzen, ungerührt nippte er aus seinem Glas und schien zu lächeln. Ich kam mir dämlich vor.

Sherbunow ballerte erneut in den Saal.

»Aufhören!« brüllte ich.

Sherbunow murmelte etwas in seinen Bart, das klang wie »du hast mir gar nichts zu sagen«, hängte sich das Gewehr jedoch über die Schulter.

»Wir gehen«, sagte ich, drehte mich um und ging hinter die Kulissen.

Ein paar Leute, die dort standen, stoben bei unserem Erscheinen auseinander. Ich lief mit Sherbunow durch einen dunklen Flur, der etliche Biegungen machte, bis wir endlich auf den Hinterausgang stießen; einen Augenblick später standen wir auf der Straße, wo man gleichfalls vor uns das Weite suchte. Wir gingen zum Auto. Nach der Stickigkeit des verräucherten Saales wirkte die klare, frostige Luft auf mich wie Äther – mir drehte sich der Kopf, ich war plötzlich todmüde. Der Chauffeur saß, reglos wie zuvor, unter einer dicken Schicht Schnee auf dem Vordersitz. Ich öffnete die Tür zum Verschlag und wandte mich um.

»Wo ist eigentlich Barbolin?« fragte ich.

»Kommt gleich«, sagte Sherbunow grinsend, »hat noch was zu erledigen.«

Ich kroch ins Auto, ließ mich auf den Sitz fallen und schlief augenblicklich ein.

Geweckt wurde ich durch das Kreischen einer Frau, und ich sah Barbolin aus der Seitenstraße kommen, die auf Bilderbuchart strampelnde Jungfer in Spitzenhöschen und verrutschter Rattenschwanzperücke auf den Armen.

»Rück ein Stück, Genosse«, sagte Sherbunow zu mir, als er in den Verschlag gekrochen kam, »wir kriegen Verstärkung.«

Ich rückte nach außen. Sherbunow beugte sich zu mir und sagte mit überraschender Wärme in der Stimme:

»Ich hab dich nicht gleich verstanden, Petka, hab dir nicht ins Herz geschaut. Du bist in Ordnung, hast eine feine Rede gehalten.«

Ich brummte etwas und schlummerte wieder ein.

Im Halbschlaf hörte ich die Frau kichern und die Bremsen quietschen, hörte Sherbunow finster fluchen und Barbolin zischen wie eine Schlange – anscheinend stritten sie sich um das arme Ding. Dann kam das Auto zum Stehen. Ich hob den Kopf und sah das verschwommene, unwirkliche Gesicht Sherbunows vor mir.

»Schlaf nur, Petka«, sprach das Gesicht mit hallender Stimme, »wir steigen hier aus. Wir haben noch was mit dem Paten zu bereden. Iwan fährt dich nach Hause.«

Ich äugte aus dem Fenster. Wir standen auf dem Twerskoi-Boulevard, vor dem Stadtpolizeipräsidium. Sachte und in großen Flocken fiel der Schnee. Barbolin und die bibbernde halbnackte Frau standen schon draußen auf der Straße. Sherbunow drückte mir die Hand und stieg aus. Das Auto fuhr wieder los.

Mit einemmal fühlte ich heftig, wie einsam und schutzlos ich war auf dieser gefrorenen Welt, deren Bewohner es darauf abgesehen hatten, mich in die Gorochowaja zu bringen oder mir die Seele mit Hexensprüchen zu verdunkeln. Gleich morgen früh, dachte ich, werd ich mir eine Kugel in die Stirn jagen. Das letzte, was ich vor mir sah, ehe ich endgültig in die schwarze Grube der Besinnungslosigkeit hinabfuhr, war das schneebedeckte Gitter der Straßenbegrenzung – während das Auto wendete, erschien es ganz dicht vor dem Fenster.

2

Genaugenommen war das Gitter nicht vor, sondern im Fenster, noch genauer: in der kleinen Luke, durch die ein schmales Bündel Sonnenstrahlen mir gerade ins Gesicht fiel. Ich wollte beiseite rücken, was mir aber nicht gelang – bei dem Versuch, mich vom Fußboden abzustemmen, um mich vom Bauch auf den Rücken zu drehen, stellte sich heraus, daß meine Arme gefesselt waren. Ich steckte in etwas, das wie ein Leichengewand aussah und dessen lange Ärmel auf dem Rücken zusammenhingen – wenn ich mich nicht irre, nennt man das eine Zwangsjacke.

Mir fiel es nicht sonderlich schwer zu erraten, was geschehen war – etwas an meinem Verhalten hatte anscheinend den Argwohn der Matrosen geweckt, und nachdem ich im Auto eingeschlafen war, hatten sie mich zur Tscheka gefahren. Ich krümmte meinen Körper so, daß ich auf die Knie und sodann an der Wand zu sitzen kam. Meine Zelle schaute recht merkwürdig aus. Weit oben unter der Decke war das vergitterte Fensterchen, durch das der Sonnenstrahl hereinfiel, welcher mich geweckt hatte. Wände, Tür, Fußboden und Decke waren mit einer dicken, weichen Polsterung versehen, so daß ein romantischer Selbstmord im Geiste Dumas' (»noch einen Schritt, Mylord, und ich schlage mir den Schädel an der Wand ein«) nicht in Frage kam. Offenbar hatten die Tschekisten solcherart Zellen für besonders respektable Gäste hergerichtet – ein Gedanke, der mir, wie ich zugeben muß, einen kurzen Moment schmeichelte.

Es verstrichen einige Minuten, in denen ich an die Wand starrte und mir die erschreckenden Details des vorangegangenen Tages ins Gedächtnis zurückholte, dann wurde die Tür aufgerissen.

Sherbunow und Barbolin standen auf der Schwelle – doch mein Gott, in welchem Aufzug! Sie trugen weiße Kittel, bei Barbolin schaute sogar ein echtes Stethoskop aus der Tasche hervor. Das war nun weit mehr, als ich fassen konnte; meiner Brust entrang sich ein nervöses Gelächter, woraus die vom Kokain verbrannte Kehle eine Art Röchelhusten machte. Barbolin, der näher zu mir stand, drehte sich nach Sherbunow um und sagte etwas, was ich nicht verstand. Schnell hörte ich zu lachen auf – irgend etwas verriet mir, daß sie gleich zuschlagen würden.

Den Tod fürchtete ich am allerwenigsten, das sagte ich wohl schon. Zu sterben war in meiner Situation ebenso naheliegend und vernünftig, wie man ein Theater verläßt, das – noch dazu während einer schlechten Vorstellung – in Flammen aufgegangen ist. Was ich jedoch auf gar keinen Fall wollte, war, daß ich auf meinen letzten Wegen von den Ohrfeigen und Fußtritten wildfremder Leute belästigt sein würde – dafür war ich wohl im Tiefsten meiner Seele nicht Christ genug.

»Meine Herren«, sagte ich, »ich denke, ihr wißt, daß man auch euch demnächst totschlagen wird. So bitte ich euch – aus Ehrfurcht vor dem Tod, wenn nicht vor meinem, dann vor dem eigenen: Erledigt es rasch und ohne Umschweife. Ich habe euch sowieso nichts mitzuteilen. Ich bin, müßt ihr wissen, eine Privatperson, und …«

»Was ist denn das nun wieder?« unterbrach mich Sherbunow grinsend. »Da hat mir dein Auftritt gestern aber besser gefallen. Diese hübschen Verse! Weißt du das wenigstens noch?«

Seine Art zu sprechen hatte etwas unbestimmbar Merkwürdiges an sich, nicht passend zur Situation, und ich vermutete, daß er sich schon zu früher Stunde seinen baltischen Tee genehmigt hatte.

»Mein Gedächtnis ist vorzüglich«, antwortete ich und sah ihm direkt in die Augen.

Sein Blick war unerschütterlich leer.

»Was redest du überhaupt mit diesem Blödmann«, krächzte Barbolin mit hoher Stimme. »Laß den Professor damit klarkommen, der kriegt es bezahlt.«

»Also los«, zog auch Sherbunow einen Schlußstrich, trat auf mich zu und nahm mich beim Arm.

»Könnt ihr mir nicht die Hände losbinden?« fragte ich. »Ihr seid doch zu zweit.«