1.
Das Vibrieren des Lenkrads irritierte den Chauffeur. Dazu kam noch ein lautes Hämmern und Zischen, das für die Nobelkarosse untypisch war.
Ob der in Deutschland erhältliche Treibstoff die Ursache für die Probleme war?, fragte sich der Chauffeur. Er hatte den Maybach 62 S vor einer halben Stunde in Arnsberg aufgetankt und war nun in südlicher Richtung nach Siegen unterwegs. Der Navigator verriet ihm, dass er sich im Bereich des Rothaargebirges befand, einer hügeligen Landschaft mit Fichtenwäldern und Buchen, die so früh im Jahr noch keine Blätter trugen.
Dichter Hochnebel verdüsterte die verlassen wirkende Gegend, in der kaum jemand unterwegs war. Dabei war es der Zeitangabe des Maybachs nach erst vier Uhr dreiundzwanzig. Die hellblau leuchtende digitale Uhr hatte sich automatisch von westeuropäischer auf mitteleuropäische Zeit umgestellt. Das bedeutete Anfang März minus eine Stunde zu England. Der Chauffeur machte sich keine Sorgen, denn auf den Maybach war Verlass. Abgesehen von den seltsamen Geräuschen, dem Vibrieren des Lenkrads und dem Schlingern des Fahrzeugs. Arthur steuerte die schwarze Limousine konzentriert über die kurvenreiche Straße.
Um sich abzulenken, startete er den CD-Player mit Lady Marbelys Lieblingsmusik, Tschaikowskis Dornröschen. Zu den Klängen der Ballettmusik setzte nun Nieselregen ein. Die Wischer des Maybachs nahmen von selbst ihren Dienst auf. Ein starker Wind rüttelte kaum merklich an dem 6.300 Pfund schweren Luxuswagen.
Der Wind entwickelte sich rasch zu einem ausgelassenen Sturm. Der Chauffeur bemerkte es an umherwirbelnden Ästen und Laub, das vom Winter schwarz und klumpig geworden war. Dazu passte Tschaikowskis Musik, die sich in Tempo und Lautstärke steigerte. Doch da war noch etwas. Auch das Fahrgeräusch war stärker geworden, der Maybach ließ sich kaum mehr lenken. Des Chauffeurs rechter Fuß presste das Bremspedal in die Gummimulde, gleichzeitig entwickelte der über sechs Meter lange Wagen ein unkontrollierbares Eigenleben. Der Chauffeur musste hilflos mit ansehen, wie die Landschaft, die eben noch seitlich neben ihm sichtbar gewesen war, nun an der Frontscheibe entlangflog. Sekundenbruchteile später lag die Straße, die er hinter sich gelassen hatte, vor ihm. Die Gegend veränderte sich aber nicht nur in der Horizontalen, sondern auch in der Vertikalen. Der Hochnebel lag unten, die Fahrbahn verlief entlang des Autodaches.
Eine verwirrende Situation, die zwar der Begleitmusik entsprach, doch dem Chauffeur unerklärlich schien.
Dann hörte er einen Knall und verspürte einen mörderischen Schlag gegen den Oberkörper. Er fürchtete, erschossen worden zu sein, während die durch den Unfall ausgelösten Airbags ihm Atem und Bewusstsein nahmen.
*
Der athletische Mann in der Montur eines Butlers nahm die Treppe in die 7. Etage des Best Western Park Hotels zu Fuß, zwei Stufen auf einmal. Er musste in Form bleiben. Die Aufgabe, die er im Auftrag von SSI zu erfüllen hatte, würde nicht einfach werden.
Sie werden Lady Marbely Tag und Nacht zur Seite stehen, hatte Mister Prince gesagt. Es darf ihr nichts zustoßen, schon gar nicht auf deutschem Boden. Die Lady kommt im Maybach, mit Chauffeur, ohne ihren Butler. Dessen Part übernehmen Sie, und zwar so, dass Lady Marbely ihren eigenen Butler in keiner Weise vermisst.
Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, die Lady zufriedenzustellen, hatte er vollmundig erwidert und sich auf die Mission vorbereitet.
Er wurde zum perfekten Butler. Über der dunklen Hose und dem dezent gestreiften Frackrock trug er einen schwarzen Kamelhaarmantel. Am linken Unterarm balancierte er einen Regenschirm, auf dem Kopf saß die Melone. Wenn der Frack nicht aus schusssicherem Material gewesen wäre, wäre er, nun als der Butler, noch leichtfüßiger unterwegs gewesen. Wobei schnellere Bewegungen ohnehin nicht der Würde seines neuen Berufs entsprochen hätten.
Bevor er an die Tür zur Suite der Lady klopfte, versicherte er sich des tadellosen Sitzes seiner Kleidung, wischte einige Staubkörner vom Revers und räusperte sich, um plötzlich erschrocken innezuhalten. Er hatte vergessen, die weißen Handschuhe anzuziehen und holte dies umgehend nach.
Er war gespannt auf die Lady. Er wusste nur, dass sie sehr nobel und sehr reich war, nicht mehr die Jüngste, doch voll Abenteuerlust und unkonventionellen Ideen.
Er klopfte an die Tür und vernahm ein Come in, das ihn zum Eintreten aufforderte.
Ach ja, gepflegtes Englisch sollte er auch beherrschen. Eine knifflige Aufgabe, all diese Details unter einen Hut zu bringen, auch wenn dieser, wie in seinem Fall, eine Spezialanfertigung aus Stahl war.
„Oh my God, Sie sehen ja tatsächlich wie ein richtiger Butler aus“, begrüßte ihn Lady Marbely in beinahe akzentfreiem Deutsch.
Der Butler verneigte sich leicht. „Immer zu Ihren Diensten, Milady.“
Vor dem Butler stand eine jugendlich wirkende Einundsiebzigjährige, die ihm die rechte Hand zum Gruß entgegenstreckte.
Er fragte sich, ob er den Handschuh ausziehen sollte.
„Anlassen“, sagte die Lady und lächelte ihn aus ihren wasserblauen Augen freundlich an. „Ein Butler lässt die Handschuhe stets an. Und er schüttelt der Dame nicht die Hand, sondern deutet einen Handkuss an. Etwa so.“ Mit diesen Worten beugte sich Lady Marbely über die Hand ihres neuen Butlers und demonstrierte, was sie meinte.
„Ich war um eine möglichst perfekte Vorbereitung bemüht“, sagte der Butler, „bin aber auf Ihr freundliches Wohlwollen angewiesen. Kleinere Unzulänglichkeiten bitte ich höflichst zu verzeihen.“
„Wie heißt es so schön am Ende von Some Like It Hot? Nobody is perfect. Nicht einmal Henry, mein Butler in Marbely House, kann und weiß alles.“ Die kleine Frau mit dem grau-rötlichen Haar, deren dezente Kleidung die durchaus vorhandenen Rundungen elegant kaschierte, strahlte ihr Gegenüber entwaffnend an.
„Ich danke für Ihren Großmut, Milady, in der Hoffnung, diesen nicht allzu sehr beanspruchen zu müssen.“
„Also, ich bin Milady, und Sie sind …“
„Nennen Sie mich James!“
„Kein deutscher Name?“
Er überging die Frage. „Sie erlauben mir das Kompliment: Ihr Deutsch ist fehlerlos, nahezu perfekt.“
„Auch ein Butler sollte bei der Wahrheit bleiben. Meine Deutschkenntnisse sind eingerostet. Aber ich hoffe, sie im Siegerland aufpolieren zu können. Man spricht doch Deutsch hier?“ Sie lachte dezent. „Was ich am Flughafen hörte, klang nicht danach. Ich wähnte mich in Amerika.“
„Die Leute sprechen den lokalen Dialekt, das Siegerländer Platt“, erklärte der Butler. „Die Phonetik ist Ihrer Sprache sehr ähnlich.“
„Ach, James, wenn Sie mir ein Beispiel davon geben könnten!“
Der Butler konzentrierte sich, dann begann er: „Komm, Lädi, mr wonn Platt schwätze, dat rummt beasser!“
„Und das heißt, lieber James? Sie übersetzen es mir doch!“
„Das hat keine besondere Bedeutung. Es drückt aus, dass die Mundart das gemütlichere Sprachmedium ist. Wenn Milady so belieben.“
„Ach, wie liebe ich die Sprache und die Kultur dieses Landes! Die Musik, die Märchen, die Lieder!“
„Die Politik wohl weniger. Wenn ich mir diesen Einwurf gestatten darf.“
„Bleiben wir auf sicherem Terrain, äh …“
„James.“
„Richtig, James. Bleiben wir bei den alten Werten Deutschlands.“
„Sie befehlen, Milady, ich werde bestrebt sein, Ihren Wünschen nachzukommen.“
„Gut, dann bereiten Sie uns Tee, und wir planen die nächsten Schritte.“
Der Butler atmete auf. Das Ärgste schien überwunden. Er wusste, wie man perfekten englischen Tee machte und begab sich in die Küche der Suite.