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„Das ich hoffentlich nie benötige. Und nun …“

„Nun tauche ich unter und wünsche Ihnen und mir gutes Gelingen.“

6.

Am nächsten Morgen nahm Lady Marbely Stefan Obermanns VW, um nach Siegen zu gelangen. Das Fahrgefühl war interessant. Man spürte, dass man in einem Auto saß, hörte sogar den Motor und musste sich an die neue Position des Lenkrades gewöhnen. Außerdem war es entweder zu kalt oder zu warm, je nachdem, ob man die Heizung einschaltete oder nicht. Lady Marbely verzichtete schließlich ganz auf diese Einrichtung, da die Sonne zu wärmen begann. Sie hielt an der nächsten Tankstelle, füllte den Benzintank und erwarb eine Straßenkarte. Von der Frau an der Kasse ließ sie sich den Weg nach Siegen erklären. Dabei fiel ihr der von Stefan Obermann erwähnte Ort namens Adlerhorst ein, wo sich angeblich die Leute mit den schwarzen Ringen trafen. Die junge Frau konnte dazu nichts sagen und verwies die Lady an zwei ältere Männer, die sich an einem Buffettisch zu einem morgendlichen Kaffee getroffen hatten. Die beiden Einheimischen erklärten sich bereit, auf die höflichen Fragen der Engländerin zu antworten. Die Straßenkarte wurde auf einem Nebentisch ausgebreitet und Milady erklärte, dass sie auf ihrer Fahrt nach Siegen gerne das ehemalige Führerhauptquartier Adlerhorst besichtigen wolle. Sie habe in einem englischen Roman darüber gelesen.

„Sie sind Engländerin?“, fragte der zweite Einheimische. Er fiel aufgrund seiner ausgesprochenen Hagerkeit auf. „Das merkt man kaum.“

„Es ist nichts mehr davon zu sehen. Wurde alles dem Erdboden gleichgemacht, von den Feinden, nach dem Krieg“, beantwortete der Weißhaarige die Frage der Lady.

„Wo liegt dieser Ort, meine Herren?“

„Nehmen Sie uns mit! Wir zeigen Ihnen das Areal“, schlug der Hagere vor. „Doch Sie werden enttäuscht sein.“

„Macht nichts. Wenn es nicht allzu weit ist, möchte ich es sehen.“ Lady Marbely entschuldigte sich telefonisch bei ihrem Mitarbeiter Sam Hamilton in Siegen. „Ich werde mich etwas verspäten. Wir treffen uns zur Mittagszeit.“

Als sie nach einer Viertelstunde in Ziegenberg ankamen, erklärte der Weißhaarige: „Das Schloss und die Bunker darunter gehörten zum Führerhauptquartier, ebenso wie eine zweite Stollenanlage in Wiesenberg und das Schloss Kransberg. Ich war ein kleiner Junge damals, am Ende des Zweiten Weltkriegs, kann mich aber noch gut erinnern. Es war immerhin ein Ereignis für die Gegend, den Führer persönlich auf Besuch zu haben. Natürlich sah man nichts von ihm.“ Der Weißhaarige kam Lady Marbelys Frage zuvor: „Das Schloss wurde durch amerikanische Bomben völlig zerstört. Nur die Außenmauern blieben stehen. Stellen Sie den Wagen hier ab. Ins Schloss gehen wir zu Fuß.“

„Im März 1945 wurde Schloss Ziegenberg zu Kransberg, und der Bergfried zum alten Turm“, ergänzte der Hagere.

Lady Marbely betrachtete den steinernen Turm, auf den dornenbestückte Rosenranken kletterten, die jetzt noch keine Blätter trugen.

„Ein Industrieller hat das Schloss wieder aufbauen lassen“, erklärte der Weißhaarige weiter.

„Sie wissen nicht zufällig, um wen es sich da handelt?“, fragte die Lady.

Die Männer schüttelten unisono ihre Köpfe.

„Im Moment scheint niemand hier zu sein“, bemerkte die Lady mit einem Blick auf die geschlossenen Fenster.

„Sie kommen nur an bestimmten Tagen“, antwortete der Hagere. „Schloss Ziegenberg stellte das Zentrum des Führerhauptquartiers Adlerhorst dar. Es eignete sich wegen des noblen Herrenhauses und der Wirtschaftsgebäude ganz besonders dafür. Die Autobahn war nicht weit entfernt, und bei Hasselborn, keine zwanzig Kilometer entfernt, gab es einen Eisenbahntunnel, in dem man Züge vor den Bombenangriffen der Feinde schützen konnte.“

„Der Ort hat etwas Unheimliches an sich“, meinte Lady Marbely, obwohl sie fürchtete, von ihren Begleitern verlacht zu werden.

„Ein Ort, den auch Hitler nicht besonders mochte“, erklärte der Weißhaarige zustimmend und steckte sich eine Zigarette an. „Aber er war hier. Vermutlich, weil die ausgedehnten Bunkeranlagen hohe Sicherheit versprachen. Am Ende des Jahres 1944 und in den ersten Wochen 1945. Wenn man sich einigermaßen hier auskennt, kann man noch die Reste der Stollenanlagen um das Schloss herum erkennen. Zwei der Bunker sowie ein Verbindungsgang wurden einige Jahre nach dem Krieg gesprengt. Angeblich gibt es noch einen Bunker, den Bunker Nummer fünf. Aber das kann auch ein Gerücht sein. Wie so vieles, was den Adlerhorst betrifft.“

„Erzählen Sie, bitte“, ermunterte Lady Marbely den Mann.

„Diejenigen, die sich nach alten Zeiten zurücksehnen, schwafeln von einer Auferstehung des sogenannten Tausendjährigen Reiches.“

„Einer Fortsetzung“, korrigierte ihn der Hagere; er hatte sich ebenfalls eine Zigarette in den Mundwinkel gesteckt.

„Das heißt, die alten Nationalsozialisten sind nur untergetaucht und arbeiten politisch weiter“, versuchte Lady Marbely Klarheit in die Andeutungen der beiden Männer zu bekommen.

„Bunkerleute, Maulwürfe“, sagte der eine.

„Nicht nur die Alten. Sie haben neue Anhänger“, ergänzte der andere eifrig.

„Aber alles nur Gerüchte, die wir vor einer Fremden … Sie entschuldigen doch diesen Ausdruck? Also, das ist alles nur ein Latrinengerücht, um in der Sprache dieser Zeit zu bleiben“, schloss der Weißhaarige das Gespräch und hatte es plötzlich sehr eilig, die Rückfahrt anzutreten. „Ich muss jetzt leider wieder nach Hause.“ Er strebte auf den vor dem Schloss abgestellten VW Polo zu. Lady Marbely und der Hagere folgten ihm.

Nachdem sie eine Weile gefahren waren, stoppten sie aufgrund merkwürdiger Fahrgeräusche. Gemeinsam verließen sie den Wagen. Die Männer entfernten die aufgesteckten Radkappen. Mit einem Drehschlüssel kontrollierten sie die Radmuttern, fanden heraus, dass die hinteren Räder in Ordnung waren, die beiden vorderen jedoch lose an den Naben hingen.

„Das hätte ins Auge gehen können“, sagte der Weißhaarige und zog die Radmuttern nach. „Gut, dass wir es rechtzeitig bemerkt haben.“

„Jemand muss das Fahrzeug manipuliert haben, während wir im Schlosshof waren“, vermutete Lady Marbely.

Die Männer rauchten nachdenklich neue Zigaretten und stiegen danach wieder ein. Während der gesamten Rückfahrt zur Tankstelle herrschte betretenes Schweigen. Während der Weißhaarige wortlos den VW verließ, meinte der Hagere mit gedämpfter Stimme: „Sie haben gefährliche Gegner. Passen Sie auf sich auf!“

Lady Marbely fuhr rasch weiter Richtung Siegen und fühlte sich wie der Held in Franz Kafkas Roman Das Schloss. Alles um sie herum hatte sich verdüstert. Sie hatte ihren treuen Begleiter, wenn nicht gar Freund, den Butler James verdächtigt, an der Spitze der Feinde zu stehen, war nun völlig allein unterwegs, wieder einmal knapp dem Tod entronnen und keinen Schritt weitergekommen in den Ermittlungen gegen die Täter. Nun, das stimmte nicht ganz. Sie ahnte, dass die Morde und Mordversuche vom Schloss ausgingen, dem ehemaligen Führerhauptquartier Adlerhorst. Und da das Schloss an sich nicht böse sein konnte, musste es Menschen geben, die für die Angriffe auf sie und andere verantwortlich waren. Offenbar, um an die Erbschaft Jakob Aufhausers heranzukommen, mit der man dunkle Pläne finanzieren wollte. Pläne, die irgendwie mit dem Nationalsozialismus zu tun hatten.

An der Spitze dieser Bewegung musste jemand stehen, der eine Verbindung zu Jakob Aufhausers Firmen hatte. Jemand, der erhofft hatte, dessen Besitz zu erben. Und dieser Jemand kannte Lady Marbely sehr gut.

*

„Die Zeit der Schonung der Engländerin ist vorbei“, sagte der Führer in scharfem Ton. „Sie weiß anscheinend mehr, als uns lieb sein darf. Sie hätte uns sonst nicht bis hierher verfolgt. Ein Autounfall hat, wie ich vorausgesagt habe, erneut nicht funktioniert. Wir können es uns nicht erlauben, immer wieder auf die gleiche Weise zu scheitern. Ihr schnappt sie euch, und zwar sofort, und bringt sie hierher. Sie wird uns verraten, was sie weiß, und wir werden versuchen, sie für unsere Sache zu gewinnen. Und wenn uns das nicht gelingt, wird sie sterben … nachdem sie ein Testament unterzeichnet hat.“