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Lady Marbelys Anspannung löste sich, als sie auf die idyllische Stadt Butzbach zusteuerte. Sie blinzelte, als sie eine Bewegung vor sich sah. Zwei junge Männer hatten eine Autopanne und gaben ihr durch Handzeichen zu erkennen, dass sie anhalten sollte. Sie war sich durchaus bewusst, dass dies ein Hinterhalt sein konnte. Doch Lady Marbely war bereit, die Rolle des Lockvogels weiter todesmutig zu übernehmen. Lachend kamen die beiden Männer auf sie zu, sie öffnete das linke Seitenfenster und … einer der Männer sprühte ihr eine kalte Flüssigkeit aus einer Spraydose ins Gesicht. Unmittelbar darauf verlor sie das Bewusstsein.
Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als sie in einem fast dunklen, nur von einer schwachen Lichtquelle erhellten Raum erwachte. Und als sie sich bewegte, erfasste sie eine heftige Übelkeit, die erst wich, als sie bemüht ruhig rücklings auf einer Art Pritsche liegen blieb. Sie versuchte aus dieser Position, den Raum mit ihren Blicken zu erkunden. Von der Steindecke her zu schließen, befand sie sich in einem quadratischen Kellergewölbe, schätzungsweise vier mal vier Meter, fensterlos. Das karge Licht drang durch eine mit Metall abgeschlossene Öffnung, die auch zur Belüftung des Verlieses diente. An der gegenüberliegenden Seite befand sich eine Stahltür. Sie selbst lag in eine Decke gehüllt auf einem harten Bett. Vor ihr, auf einem Schemel, standen ein Krug Wasser und ein Glas, etwas entfernt davon ein Kübel, der wohl als Toilette dienen sollte. Sie erinnerte sich an ihre Zeit im Internat in Harrogate. Genau davon hatte sie eben geträumt, bevor sie aufgewacht war. Allmählich wurde ihr klar, was passiert war …
In ihrer Ohnmacht hatte sie von Schloss Ziegenberg geträumt. Es hatte gefährlicher denn je auf sie gewirkt, und doch irgendwie bekannt. Als ob sie dort schon öfter gewesen wäre, vor ihrem Besuch mit den beiden Männern von der Tankstelle. Das Schloss hatte ein Gesicht gehabt, ein menschliches Gesicht, oder eigentlich zwei Gesichter übereinander. Die Gesichter zweier Menschen, die sie kannte. Das Schloss hatte zu ihr gesprochen, und sie hatte genickt, immer nur genickt. Offenbar war das, was das Schloss ihr mitgeteilt hatte, nachvollziehbar gewesen. Nachvollziehbar, aber nicht angenehm. Es hatte mit Leben oder Tod zu tun. Nein, mit Leben und Tod.
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Der Butler verfolgte währenddessen die Gespräche der jungen Leute im Maybach über Funk. Stefan Obermann und Ruth Henschel genossen die Fahrt in dem komfortablen Fahrzeug und unterhielten sich über die schrullige Engländerin. „Aber wie soll es weitergehen? Wir wissen doch, in welcher Gefahr sie sich befindet“, fragte Stefan gerade.
„Wir haben eine Vermutung. Dennoch …“
„Ich glaube, dass auch wir im Visier der Täter stehen.“
„Die Männer, die auch unsere Väter getötet haben?“
„Ich weiß nicht“, sagte Stefan Obermann. „Irgendetwas stimmt nicht an der Sache. Da ist jemand, der die Fäden zieht.“
„Den wir kennen.“
„Ja, jemand, den wir kennen“, bestätigte die Stimme des jungen Obermann.
Der Butler wurde von seinem Mobiltelefon abgelenkt. „Hier Hamilton. Ich habe Ihre Nummer von Mister Prince“, meldete sich ein Mann mit stark englischem Akzent. Seine Stimme klang aufgebracht. „Die Lady ist nicht zur vereinbarten Zeit in Siegen eingetroffen. Ich fürchte, dass ihr etwas zugestoßen ist.“
„Milady haben sich entschlossen, eigene Wege zu beschreiten. Daher …“
„Hören Sie mit dem Gestelze auf! Reden Sie normal! Ich mache mir Sorgen.“
„Gut, dann ganz knapp“, antwortete der Butler. „Ich weiß, wo Lady Marbely gefangen gehalten wird. Ein Peilsender verrät mir ihre jeweilige Position.“
„Was gedenken Sie zu unternehmen? Sie sind für Milady verantwortlich!“
„Wir beobachten die Situation, um mehr über ihre Entführer herauszufinden. Ein zu frühes Einschreiten gefährdet den entscheidenden Schlag gegen die Waffenmafia.“
„Das heißt, dass Sie die Lady als Köder für Ihre lächerliche Verbrecherjagd verwenden, Sie … Sie …“
„Was ist bei Ihren bisherigen Untersuchungen der Firmen Aufhausers herausgekommen?“, versuchte der Butler das Gespräch zu versachlichen.
„Das geht Sie einen feuchten Dreck an, Sie …!“
Der Butler entfernte das iPhone von seinem Ohr, um die Vielfalt unflätiger Ausdrücke nicht hören zu müssen. Als die Schimpfkanonade nicht enden wollte, beendete er das Gespräch. Doch der Engländer hatte natürlich recht. Er musste handeln. Jetzt sofort! Zuallererst wollte der Butler Kontakt zu den beiden jungen Leuten suchen, in deren Blockhaus sich die Lady geflüchtet hatte. Hänsel und Gretel, einsam im Wald. Und wer war die Hexe? War es Angela Obermann? Liefen bei ihr die Fäden zusammen? Immerhin hätte sie gute Aussichten gehabt, das gesamte Vermögen zu erben, wäre ihr nicht die Lady in die Quere gekommen. Eine sehr schöne, aber hart wirkende Frau, die wusste, was sie wollte, indem sie den Chef ihres Mannes in ihr Haus und in ihre Familie lockte. Wenn sie der Teufel war, stellte sich die Frage, welche Verbindung sie zu dieser Neonazitruppe hatte. Benutzte sie diese nur als Mordwerkzeug, um ans Ziel zu kommen? Und was war ihr Ziel? Macht? Geld?
Der Besuch im Blockhaus musste warten, entschied der Butler, ebenso wie die Befreiung der Lady. Auch wenn es riskant war. Doch die Lösung des Falles erforderte einen kühlen Kopf und ein ebensolches Herz. Auch wenn es dem Butler schwerfiel. Er musste noch einmal Angela Obermann treffen und ihre Persönlichkeit auf sich wirken lassen, um zu verstehen, was sie plante.
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Die Terrassentür, durch die man Herrn Obermann erschossen hatte, war inzwischen repariert. Und Frau Obermann war schön wie immer. Sie wirkte von den Ereignissen unberührt. Der Butler deutete nur an, von dem Kaffee zu trinken, und das Schnittchen ließ er in einem Taschentuch verschwinden, während Angela Obermann auf seine Bitte hin eine Flasche Mineralwasser aus der Küche holte.
„Lady Marbely ist heute nicht mitgekommen?“, fragte Angela Obermann.
„Sie ist unpässlich“, log der Butler. „Die Aufregung der letzten Tage. Und die Jüngste ist sie auch nicht mehr.“
„Aber eine sehr sympathische Person. Lassen Sie sie grüßen! Ich wünsche baldige Besserung. Aber nun zum eigentlichen Grund Ihres Besuches, Herr …“
„James.“
„Also, James, was führt Sie zu mir?“
„Die Hoffnung, etwas mehr über die Beteiligten aus der Sicht einer intelligenten Frau zu erfahren.“
„Komplimente sind nicht nötig. Was wollen Sie wissen?“
„Was für ein Mensch war Jakob Aufhauser?“
„Jakob wurde immer sensibler durch das Leid, das er erfahren hatte“, antwortete die Frau nachdenklich. „Er wirkte auf mich wie manche Schwerkranke, die kurz vor dem Tod ein melancholisches Wesen entwickeln. Er hat mich fasziniert. Ich kenne das von meinem Vater, der an Krebs starb und sich in den Monaten, in denen er sich einer Chemotherapie unterzog, völlig verwandelte. Von einem hektischen Manager zu einem ruhigen und liebenswerten Menschen. Bei Jakob war das, wie gesagt, auf den Verlust seines Sohnes und seiner Frau zurückzuführen. Er begann sein bisheriges Leben und seine berufliche Tätigkeit zu hinterfragen.“
„Mit dem Effekt, dass er reinen Tisch machen wollte, was die illegale Waffenproduktion betraf?“, hakte der Butler nach.
„Davon wusste ich nichts. Doch es kann so gewesen sein“, sagte Frau Obermann.