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7.

Stefan stand vor dem Haus, in dem seine Stiefmutter Angela Obermann wohnte. Es war nicht das Haus seiner Kindheit, auch nicht seiner Jugend. Noch vor seiner Internatszeit hatten alle bei den Eltern seines Vaters gewohnt, in einem Haus an der Sieg, das er als hell und sonnenbestrahlt in Erinnerung hatte. Großvater Heinrich war ein ähnlich ernster Mann wie sein Vater gewesen, doch die Großmutter war lebensfroh, etwas rundlich und immer voll guter Laune. Ziemlich ähnlich der englischen Lady, die ihm vom ersten Moment an sympathisch gewesen war. Doch was war nur mit ihr geschehen? Sie meldete sich nicht mehr!

Alles um ihn herum begann chaotisch zu werden. Nichts ergab mehr einen Sinn. Nur Ruth schien einen klaren Kopf zu behalten und wollte offenbar, dass er selbst die Spur aufnahm, da er nicht glauben wollte, was sie vermutete. Und er mochte es immer noch nicht wahrhaben. Angela war zwar immer sehr distanziert zu ihm gewesen, aber keineswegs feindselig. Sie hatte niemals Aggressionen gezeigt, weder ihm noch seinem Vater gegenüber. Und Jakob Aufhauser hätte ihr kein Geld hinterlassen, wenn er einen bösen Verdacht gehabt hätte. Stefan wollte mit ihr reden, in aller Ruhe. Er musste herausfinden, wie Angela die Lage sah. Ohne Beschuldigungen und ohne Ruths Verdacht zu erwähnen. Andererseits war seine Freundin eine erfahrene Menschenkennerin …

Einerseits, andererseits …

Stefan Obermann gab sich einen Ruck und läutete an der Tür zum Haus seiner Eltern, obwohl er einen Schlüssel besaß. Noch gab es das Mansardenzimmer, das er ab seinem sechzehnten Lebensjahr in den Schulferien bewohnt hatte.

Als niemand sich meldete, schloss er auf und stand im Flur. Er fühlte sich unbehaglich. Eine schwere Wolke schien über seinem Kopf … nein, in seinem Kopf zu hängen. Und diese Wolke drückte ihn nieder. Er konnte kaum aufrecht gehen, musste sich an den Seitenwänden abstützen. Er wankte, sah kaum etwas. Die Gegenstände im Haus veränderten sich, wurden unscharf, dann wieder leuchteten sie so grell, dass es schmerzte. Der sirenenartige Ton in seinen Ohren wurde unerträglich. Er wollte sich schützen, indem er beide Hände auf die Ohren legte. Dabei verlor er das Gleichgewicht und stürzte zu Boden. Sofort verspürte er Erleichterung. Auf dem Boden liegend schienen die Turbulenzen in seinem Kopf wie weggeblasen, auch das Kreischen verebbte. Er konnte durchatmen, rollte sich zusammen und schlief. Bis er die Stimmen von Männern hörte. Kräftige, laute Stimmen. Jemand hatte ihn an den Schultern gepackt und schüttelte ihn.

„Er muss vor der Tat Drogen genommen haben“, sagte jemand.

Drogen? Vor welcher Tat?, überlegte Stefan, dann bat er um ein Glas Wasser.

„Warte, bis der Arzt kommt“, sagte ein Mann. Es war ein Polizist.

Irgendwann kontrollierte jemand seine Atmung, den Herzschlag und den Puls. Der Mann leuchtete ihm mit einer grellen Lampe in die Augen und in den Mund, dann entblößte er seinen linken Arm und entnahm ihm eine Blutprobe. Stefan versuchte aufzustehen. Er schwitzte, keuchte vor Anstrengung.

„Sitzen bleiben! Lehnen Sie sich an die Wand!“ Die Worte des Arztes waren streng.

„Was ist passiert? Warum sind Sie hier?“, fragte Stefan Obermann.

„Wir stellen die Fragen! Also, warum sind Sie hier?“

„Ich … ich gehöre hierher. Meine Eltern … Angela wohnt hier.“

„Warum haben Sie sie erschossen?“, fragte der Polizist.

„Erschossen? Ich? Warum sollte ich das tun?“

„Das ist die Frage.“

„Angela ist tot?“ Stefan wollte schreien, doch er hörte sich nur krächzen.

„Die Frau wurde erschossen. Vermutlich mit Ihrer Waffe. Wir wurden gewarnt. Anonym. Jemand wusste, dass Sie die Frau töten wollten, vermutlich, um an ihre Erbschaft heranzukommen. Leider kamen wir zu spät. Und hätten Sie die Drogen nicht genommen, wäre Ihnen die Flucht gelungen.“

„Ich habe … noch nie in meinem Leben … irgendwelche Drogen …“

„Sie können weder stehen noch gehen.“

„Lassen Sie mich nachdenken“, bat Stefan weinerlich. „Ich wollte mit Angela … mit meiner Stiefmutter reden, sie um eine Erklärung bitten.“

„Warum hatten Sie die Pistole bei sich?“

„Ich … kann nicht schießen.“

„Es wäre von Nutzen, wenn Sie die Fragen beantworten, die ich Ihnen stelle.“

„Ich muss nachdenken. Ich bin völlig verwirrt …“ Stefan Obermann verstummte. Er schloss seine Augen, knetete die Finger und murmelte vor sich hin.

Der Arzt spritzte ihm ein Beruhigungsmittel. „Schockzustand. Vermutlich durch die Droge, die er eingenommen hat. Ich tippe auf LSD, gemischt mit irgendetwas. Ein Verhör wird erst möglich, wenn die Wirkung der Substanzen nachlässt.“

„Die Situation ist an sich klar“, stellte der Polizeibeamte sachlich fest.

*

„Das Testament wird akzeptiert, Frau Marbely“, sagte der Führer und entblößte dabei seine Zähne. „Und damit Sie erkennen, welchem Zweck Ihr Vermögen dient, lade ich Sie zu einer Sitzung des Bundes 88 ein. Wir bereiten uns auf eine verantwortungsvolle Übernahme in diesem abgewirtschafteten Land vor.“ Alexander Henschel rollte die R-Laute wie sein Vorbild aus vergangenen Tagen. Nur war es Lady Marbely nicht ganz klar, ob er Adolf Hitler imitierte oder nur falsch in den ausgeprägten Siegener Dialekt verfallen war. Doch vor ihr stand kein aufrechter Siegerländer, sondern nur ein jämmerlicher Mensch.

„Folgen Sie mir!“, forderte Henschel Milady auf und schritt voraus durch einen dunklen Gang. „Sie dürfen zur Feier des Tages mit uns tafeln.“

„Eine Henkersmahlzeit?“, seufzte Lady Marbely.

„Sie werden nicht gehenkt.“

Während Milady seufzend Henschel auf der engen Steintreppe nach oben folgte, verstärkte sich ihr Verdacht, dass der sogenannte Führer in Wahrheit von jemand anderem geführt wurde. Der Mann schien selbst gar nicht in der Lage, Pläne zu entwickeln und diese konsequent umzusetzen.

„Von der Loge aus, die wir nun betreten, sehen Sie in unsere Festhalle, unser Walhall, das sie als Frau natürlich nicht betreten dürfen“, verkündete Henschel stolz, als er eine weiße Holztür aufschloss.

In dem dahinterliegenden kleinen Raum stand ein Tisch mit zwei Stühlen. Durch eine Glasscheibe konnte die Lady in einen Saal blicken, in dem an drei Reihen von Holztischen schätzungsweise fünfzig Männer bei Schweinebraten und Bier saßen. Fast alle rauchten. Insgesamt wirkte die Versammlung auf Lady Marbely eher wie eine Veranstaltung in einer Londoner Bingo-Halle, in der sich in ihren Jugendjahren Leute aus der Unterschicht zu harmlosen Vergnügungen eingefunden hatten, als eine politische Versammlung. Doch man durfte diese Leute in ihrer scheinbaren Harmlosigkeit nicht unterschätzen. Eine Reihe von zum Teil grausamen Morden ging auf ihr Konto. Lady Marbely fröstelte, als ihr in diesem Moment die aufgespießte Leiche des Amtsrichters im Keller von Schloss Andreae einfiel. An der gegenüberliegenden Schmalseite des Festsaales stand eine Tribüne mit einem Rednerpult, über der ein Transparent mit der Zahl 88 befestigt war. Schwarze Ziffern in weißem Kreis, rot umrandet.

„Ich muss mich jetzt auf meine Rede konzentrieren und Sie eine Weile allein lassen. Sie haben zu essen und zu trinken. Und wenn Sie sonst etwas brauchen, drücken Sie diesen Knopf. Unser Personal wird sich um Sie kümmern.“

Lady Marbely nickte stumm und wartete, bis er sich entfernt hatte, dann untersuchte sie den schmalen Raum und wurde rasch fündig. Dort, wo die rot tapezierte Zimmerdecke in die Hinterwand überging, war ein lupenförmiger Gegenstand angebracht. Offenbar eine Webcam, die sie wohl überwachen sollte. Webcam, dachte Lady Marbely amüsiert, war ein so undeutsches Wort, dass der Bund 88 mit Sicherheit eine andere Bezeichnung dafür hatte. Netzauge, vielleicht. Und das Internet, wie mochten sie dieses nennen? Weltnetz? Und E-Mail war vermutlich die Computerpost. Obwohl Computer auch kein deutsches Wort war …