Da hatten Henschels Leute noch viel Arbeit vor sich, wenn sie alle englischen Ausdrücke aus ihrem Wortschatz verbannen wollten.
Lady Marbely suchte nach einem Kleidungsstück, mit dem sie die Kamera verhängen konnte und entschloss sich, dafür ihr Taschentuch zu verwenden. Dann schüttete sie ihr Getränk auf den dunklen Teppichboden und ließ den Schweinebraten in einer Ecke der Loge verschwinden. Man sollte glauben, sie hätte davon gegessen. Lady Marbely war überzeugt, dass diese sogenannte Henkersmahlzeit vergiftet war.
Gebannt verfolgte die Lady das skurrile Geschehen im Saal. Eine Gruppe kahl geschorener junger Männer in braunen Uniformen mit der doppelten Acht am linken Oberarm räumte die leeren Teller ab. Währenddessen ertönte Marschmusik aus einer Lautsprecheranlage.
Heute wollen wir marschier’n,
Einen neuen Marsch probier’n.
In dem schönen Westerwald,
Ja da pfeift der Wind so kalt.
O du schöner Westerwald,
Über deine Höhen pfeift der Wind so kalt.
Jedoch der kleinste Sonnenschein
Dringt tief ins Herz hinein.
Zum Schluss hieß es dann noch:
Echte Menschen der Natur
Von Falschheit keine Spur.
Was für eine Farce, von der Schönheit der Natur und der Ehrlichkeit der Menschen dieser Landschaft im Marschrhythmus zu singen. Und doch hatte das Lied etwas, das auch der Lady gefiel. In seinem Text und in seiner Melodie spürte sie eine tiefe Melancholie, wie bei so manchem hier in Deutschland, insbesondere in den Märchen, die sich im Gegensatz zum Nationalsozialismus über die gesamte Welt verbreitet hatten. Plötzlich musste Milady an ein ganz bestimmtes Märchen denken, als das Geschehen im Saal eine völlig unerwartete Richtung einschlug.
Die Musik im Festsaal war verstummt. Alexander Henschel betrat strahlend die Bühne, ein dickes Paket von Papieren in der Hand. Offenbar seine vorbereitete Rede. „Volksgenossen! Bevor ich den Neubeginn des Großen Reiches verkünde, sollen eure Gläser gefüllt werden. Männer, bringt das Bier!“
Unter Applaus und Gejohle rollten junge Männer zwei Fässer in den Saal und stellten sie auf. Henschel schlug mit geübter Hand Zapfhähne in die Holzfässer und trank selbst gierig von der schäumenden Flüssigkeit. Erst als jeder der Festgäste mit Bier versorgt war, begab sich Henschel merkwürdig schwankend zur Tribüne.
Lady Marbely beobachtete die Vorgänge im Saal mit wachsendem Interesse. Das Geschehen nahm eine unerwartete Wende. Es war, als ob sich alles verlangsamte, als ob die Bewegungen der Männer gefroren. Die Zeitlupe, in die plötzlich alles mündete, endete in einem völligen Stillstand.
„Volks… Volks…“, lallte der Führer ins Mikrofon, dann sank er zu Boden.
Im Saal schienen alle Menschen wie erstarrt. Lady Marbely dachte an die Geschichte von Dornröschen, die sie in ihrer Kindheit als Erzählung von der Sleeping Beauty kennengelernt hatte.
In dem Augenblick aber, wo die Königstochter den Stich empfand, fiel sie auf das Bett nieder, das da stand, und lag in einem tiefen Schlaf. Und dieser Schlaf verbreitete sich über das ganze Schloss: Der König und die Königin, die eben heimgekommen waren und in den Saal getreten waren, fingen an einzuschlafen, und der ganze Hofstaat mit ihnen. Da schliefen auch die Pferde im Stall, die Hunde im Hofe, die Tauben auf dem Dache, die Fliegen an der Wand, ja, das Feuer, das auf dem Herd flackerte, ward still und schlief ein, und der Braten hörte auf zu brutzeln, und der Koch, der den Küchenjungen, weil er etwas verschüttet hatte, an den Haaren ziehen wollte, ließ ihn los und schlief. Und der Wind legte sich, und auf den Bäumen vor dem Schloss regte sich kein Blättchen mehr.
Verzaubert von der Erinnerung, verfolgte Lady Marbely das Geschehen im Saal. Sie wartete auf den Prinzen, der hinter den rätselhaften Ereignissen stehen musste. Inzwischen war ihr klar, um wen es sich dabei nur handeln konnte. Um James, ihren Butler, dem es offenbar gelungen war, den gesamten Bund 88 durch ein Schlafmittel im Bier stillzulegen. Und tatsächlich betrat ein Mann mit Schirm, Charme und Melone den Festsaal. Untadelig gekleidet wie immer. Um ihn herum bewegten sich an die zwanzig Männer im olivgrünen Outfit, Handfeuerwaffen im Anschlag. Diese Szene wiederum erinnerte Lady Marbely an ein Ballett. Nur die Musik fehlte. Engelbert Humperdincks Märchenoper Dornröschen wäre jetzt passend.
Der Butler, der sein iPhone gezückt hatte, war offenbar auf der Suche nach ihr. Die Lady versuchte durch heftiges Klopfen gegen die Glasscheibe zur Halle auf sich aufmerksam zu machen. Als der Butler jedoch direkt vor dem Fenster stand und sie nicht sah, wurde ihr bewusst, dass das Glas außen beschichtet war. Sie schlug heftig gegen die Scheibe.
Es dauerte eine Weile, bis der Butler in ihre Richtung nickte. Er schien direkt in ihre Augen zu blicken. Kurze Zeit später öffnete er die Tür zur Loge. Lady Marbely betrachtete den athletischen Mann mit seinem ernsten, doch stets freundlichen Gesicht und den leuchtend blauen Augen mit Wohlgefallen. Sie streckte ihre Hand zum Gruß aus, dann zog sie ihn an sich heran, umarmte ihn und drückte ihm einen Kuss auf die rechte Wange. „Sie dürfen die Freundschaftsbeweise gerne erwidern, James“, sagte sie gönnerhaft.
Und James ließ sich nicht lange bitten, gab der Lady jeweils einen Kuss auf beide Wangen. „Willkommen zurück im Team“, sagte er.
„Es tut mir ja so leid“, seufzte die Lady.
„Die Trennung war tatsächlich schmerzhaft. Andererseits hat diese Tatsache es uns erst ermöglicht, Ihren geschätzten Spuren folgend, diese sonderbare Truppe von Schlafmützen ausfindig zu machen.“
„Oh, Ihr Bart kratzt, James.“ Die Lady strich sich über ihre Wange.
„Dafür muss ich mich entschuldigen, Milady. Die Umstände erlaubten im Augenblick keine gründliche Rasur. Das Wichtigste: Wie geht es Ihnen, Milady?“
„Ausgezeichnet. Vor allem wohl, weil ich mein Essen nicht angerührt habe.“
„Gibt es sonst dringende Wünsche?“, erkundigte sich der Butler.
„Ich bewundere die geschmeidigen Bewegungen der Herren im Saal. Ein wunderbar männliches Ballett, wie man es am Theater nicht zu sehen bekommt. Sie wissen schon: weiße Strumpfhosen und so.“
„Ich möchte es mir detailliert nicht gerne vorstellen, wenn Milady gestatten.“
„Dennoch ein wahrer Kunstgenuss“, sagte die Lady, während sie die elastischen Bewegungen der Männer im Saal beobachtete. „Von wo kommen diese Herren?“
„GSG 9, Bundespolizei, eine Antiterrortruppe.“
„Sie haben beste Beziehungen, James.“
„Danke sehr, Milady. Nun muss ich mich um Henschel kümmern.“
„Er hat seinen Tod nur vorgetäuscht“, sagte die Lady.
„Um seine verbrecherischen Ideen weiter ungestört umsetzen zu können“, vollendete der Butler.
„Der Mann des immerwährenden Lächelns.“
„Eine Maske.“
„Eine Marionette!“
Der Butler blickte sie überrascht an. „Sie haben den Verdacht, dass es hinter diesem Führer noch jemanden gibt?“
„… der ihn, was den Verstand angeht, bei Weitem übertrifft.“
„Könnten Sie Ihre Vermutung möglicherweise präzisieren, Milady?“