Gegen einundzwanzig Uhr war es so weit. Der Butler betrat den Vorgarten des Bestattungsunternehmens und bewegte sich gemessenen Schrittes hinter die Villa, wo er sich ungestört Zutritt zu den Räumlichkeiten verschaffen konnte. Er kontrollierte die Fenster und Türen nach Anzeichen einer Alarmanlage, wurde aber nicht fündig. Dennoch war er zum schnellen Rückzug bereit, sollte er ein Signal auslösen.
Die schwarze Tür aus massivem Holz ließ sich innerhalb weniger Minuten öffnen. Er ließ sie angelehnt, um, wenn nötig, rasch fliehen zu können. Im Inneren des Gebäudes orientierte er sich mithilfe seiner leistungsstarken Kryptonlampe, die er immer wieder abschaltete, um nicht von der Straße aus bemerkt zu werden.
Der Butler vermutete den Kühlraum der Bestattung im Erdgeschoss, das würde den An-und Abtransport der Toten erleichtern. Nach zwei Fehlversuchen fand er den fensterlosen Raum mit den silbrig schimmernden Leichenkühlzellen aus Edelstahl. Er entriegelte die Tür und betätigte den Lichtschalter. Zwei Reihen von Neonlampen tauchten die Halle in kaltes Licht. Den Butler fröstelte, als er die Kühlzellen der Reihe nach öffnete und die an den linken großen Zehen angebrachten Namensschilder der Verstorbenen las.
In der vierten unteren Zelle lag Lady Marbelys Cousin. Ein Mann Ende fünfzig, mit einem mageren, unsportlichen Körper. Seine Augen waren geschlossen, der Unterkiefer war mit einer weißen Mullbinde fixiert worden. Der Butler schob die Mulde, so weit es ging, aus dem Metallschrank und begann den Körper nach Einstichspuren zu untersuchen. Auf der Vorderseite des Toten konnte er in der Linse seiner Leuchtlupe nichts entdecken, also musste er den Toten umdrehen.
Bevor er jedoch die Untersuchung des Verstorbenen fortsetzen konnte, hörte er den gedämpften Sirenenton einer Alarmanlage. Der Butler lauschte. Das Geräusch des Alarms kam nicht vom Haus, die Quelle war weiter entfernt. Außerdem klang die Sirene verdächtig nach der Alarmanlage seines Mercedes. Er würde das Fahrzeug exakt kontrollieren, bevor er es in Betrieb nahm. Es konnte aber auch sein, dass eine Katze, die etwas heftig auf den Wagen gesprungen war, den Sirenenton ausgelöst hatte.
Der Butler wandte sich erneut dem bleichen Körper zu, der in der Leichenmulde vor ihm lag und erkannte einen Einstich in der Haut am linken Schulterblatt. Das sah nach einer letalen Injektion aus. Mit seinem Leatherman schnitt der Butler etwas Gewebe aus dem Toten und schob es in ein Reagenzglas, in dem sich eine Mischung aus Benzylalkohol, absolutem Ethanol, Propylenglycol und Essigsäure befand. Der Butler überlegte, ob der Tote nicht doch eine Botschaft, seinen Mörder betreffend, hinterlassen hatte. Wo würde er selbst in einer solchen Situation einen Hinweis verbergen? Es boten sich nicht allzu viele Möglichkeiten. Er würde sich einen Zettel in den Mund stecken und hoffentlich die innere Ruhe haben, ihn nicht in den Rachenraum hinter die Zähne zu schieben, denn dort konnte er später nicht entdeckt werden. Ein Mensch, der etwas Zeit hatte zu überlegen, würde eine schriftliche Botschaft zwischen Lippen und Wangen verbergen.
Der Butler zog Latexhandschuhe an, begann den äußeren Mundraum abzutasten und spürte tatsächlich einen Gegenstand an der linken Wange. Bingo! Es war ein Stück Pappe, auf dem elf Ziffern standen: 89124118139. Er legte den Zettel in einen Polyethylensack und hielt die Zahl in seinem iPad fest.
Beim Verlassen des Bestattungsinstituts verschloss er die Tür und begab sich zu seinem in einiger Entfernung geparkten Wagen, dem er eine Wolldecke entnahm, die er auf dem Asphalt ausbreitete und sich mit dem Rücken darauf legte. Dann leuchtete er unter das Fahrzeug, wo er nichts Außerordentliches entdecken konnte. Als Nächstes entfernte er die Radkappen aller vier Reifen und erkannte, dass die Muttern am linken Vorderrad gelockert worden waren. Mit dem Radkreuz aus dem Kofferraum befestigte er diese wieder. Dann trat er die Rückreise nach Siegen an.
Der Butler vermutete, dass man ihn mit derselben Methode, die man schon bei Lady Marbelys Maybach angewandt hatte, buchstäblich aus dem Verkehr ziehen wollte. Demnach war der mysteriöse Attentäter also auch auf ihn aufmerksam geworden.
*
Um genau dreiundzwanzig Uhr siebzehn stoppte der Butler seinen Geländewagen auf dem Parkplatz des Siegener Hotels. Oben im Apartment kümmerte sich Lady Marbely gerade liebevoll um vier weiße Mäuse, die in einem Käfig hin und her huschten. „Sie dürfen sie nicht alle töten, James! Genügt es nicht, das Experiment nur bei einem der Tiere durchzuführen?“
„Ich schlage Milady folgenden Kompromiss vor. Wenn einer der Mäuse nichts geschieht, wenn also die Substanz, die ich dem Körper des Verstorbenen entnommen habe, nicht toxisch ist, wiederhole ich den Vorgang bei den weiteren Tieren. Wenn allerdings die erste Maus stirbt, verschone ich die restlichen.“
„Wenn es unbedingt sein muss“, seufzte die Lady. „Aber welche nehmen wir?“
„Diejenige, die sich am leichtesten fangen lässt.“
„Sie entschuldigen mich einen Augenblick, James. Ich möchte nicht anwesend sein, wenn Sie über Leben und Tod dieser zauberhaften Wesen entscheiden.“
„Es geschieht nichts mit ihnen, das nicht auch Ihrem Herrn Vetter geschah, Milady.“
„Das macht es nicht besser, James.“ Lady Marbely verließ den Raum, ein Glas Gin in der Hand.
Der Butler verdünnte die Lösung im Reagenzglas, das die Gewebeprobe aus dem Rücken des Toten enthielt, mit einem Milliliter Wasser, das er einer braunen Ampulle entnahm. Dann zog er die Flüssigkeit in eine Spritze, indem er deren Kolben betätigte. Anschließend injizierte er einer der Mäuse die Flüssigkeit und beobachtete das Tier. Die Maus lief aufgeregt im Käfig hin und her, ihre Artgenossen beschnüffelten sie, dann sank sie zur Seite, die rosaroten Pfoten zitterten. Schließlich erstarrte der kleine Körper. Der Butler erhob sich und klopfte an die Tür zu Lady Marbelys Schlafgemach. „Ist es vorbei?“, fragte die Lady. „Eine der Mäuse ist bedauerlicherweise verstorben“, bestätigte der Butler. „God …! Und das heißt für unseren Fall?“ „Das heißt, dass man Ihrem Verwandten eine tödliche Substanz injiziert hat. Ich tippe auf Insulin, das bei dem nicht zuckerkranken Jakob Aufhauser Hypoglykämie, also Unterzuckerung, ausgelöst hat. Mit tödlicher Folge in beiden Fällen.“
„Was haben Sie vor mit Philip?“, fragte die Lady streng. „Philip? Sie entschuldigen meine geistige Schwerfälligkeit, Milady, aber ich …“ „Die tote Maus, James. Was haben Sie mit ihr vor?“ „Ich dachte … Master Philip in der Toilette zu entsorgen.“ Milady blähte sich auf. „Unterstehen Sie sich!“ „Selbstverständlich! Das geht natürlich nicht! Wie lautet Ihr Vorschlag, Milady?“ „Ein Begräbnis im Hotelgarten.“ „Es ist schon sehr spät, und wir müssen morgen …“ „Dann mache ich es allein.“ „Auf keinen Fall, Milady!“ Lady Marbely reichte dem Butler ein blütenweißes Spitzentaschentuch, in das er Maus Philip hüllte. Daraufhin folgte er der Lady, die den Lift nach unten nahm, dem verschlafen wirkenden Portier würdevoll zunickte und den Park des Hotels durch den Hinterausgang betrat.
Der Butler stach mit dem Leatherman einen quadratischen Rasenziegel aus dem Boden und hob eine kleine Mulde aus. Lady Marbely legte die tote Maus liebevoll hinein und ließ Erde auf das schneeweiße Tier rieseln. Der Butler verschloss das Grab und wollte wieder nach oben eilen, doch Lady Marbely beliebte es, noch einige Minuten in stillem Gedenken zu verweilen. So musste auch der Butler an ihrer Seite ausharren, bis sie sich endlich von der Grabstätte lösen konnte.
Der Butler nahm an jenem Abend eine Schlaftablette, um nach kurzem Schlaf am nächsten Tag voll einsatzfähig zu sein. So schwer hatte er sich seinen neuen Job nicht vorgestellt.