„Dieser Bund 88 ist das Bindeglied zu der Lemniskate. Unendliche Unfähigkeit, unendliche Dummheit, unendliche moralische Verworfenheit zeichnet ihn aus. Ich bin mir sicher, dass diese Leute samt ihrem dauerlächelnden Führer nicht imstande sind, selbstständig zu denken. Henschel musste immer wieder jemanden fragen, wie es weitergehen sollte, auch als ich das Testament zugunsten seiner Tochter und deren Freund verfasst hatte. Und die Rede, die er halten wollte, stammte nicht von ihm. Er musste sich den Text erst schreiben lassen.“
„Das Manuskript wird sofort geprüft. Es liegt vermutlich neben ihm.“
„Er hat es fallen lassen, als er zu Boden ging. Übrigens eine grandiose Idee, die Männer mit Bier einzuschläfern.“
„Sie sind nur betäubt.“
„Äh … ja, genau das wollte ich damit sagen.“
„Ihre Beobachtungen, Milady, sind von unschätzbarem Wert. Ich werde in dieser Richtung weiter ermitteln.“
„Und ich wieder an Ihrer Seite.“
„Sie sollten sich vielleicht etwas ausruhen, nach den Strapazen.“
„Sie sagten eben noch: Willkommen zurück im Team. Ich komme jedenfalls mit.“
„Sehr wohl, Milady. Die Herren der GSG 9 befördern die Herren vom Bund 88 in Autobussen nach Frankfurt, wo sie eine Untersuchungshaft in der Justizvollzugsanstalt I antreten und getrennt verhört werden, um die kriminelle Spreu vom Weizen zu trennen, wenn Sie mir dieses sprachliche Bild gestatten, Milady. Ein logistisch ziemlich komplexer Vorgang, mit Kronzeugenregelung und allem Drum und Dran.“
„Was geschieht mit Henschel?“
„Ja, was geschieht mit Lazarus Henschel?“, wiederholte der Butler versonnen.
„Ich verstehe Ihre Anspielung. Im Neuen Testament … Der verstorbene Lazarus verlässt wie durch ein Wunder die Grabeshöhle, in der er bestattet worden war.“
„Lächelnd …“
„Genau. Und, was haben Sie nun mit ihm vor?“
„Wir werden ihn mithilfe einer belebenden Spritze aus seinen bösen Träumen wecken und gleich hier verhören. Wo waren Sie eigentlich in den letzten Tagen untergebracht, Milady?“
„In einer Kerkerzelle irgendwo in den Bunkern dieser schrecklichen Anlage.“
„Des Führerhauptquartiers Adlerhorst, vulgo Schloss Ziegenberg. Genau dorthin werden wir den Mann verfrachten, noch vor seiner Erweckung. Und dann soll er uns alles verraten, was wir wissen wollen. Bis es so weit ist, können Sie sich etwas frisch machen, Milady, und vielleicht eine Stärkung zu sich nehmen. Ich werde Ihnen etwas bringen lassen, das Sie unbesorgt genießen können.“
*
Lady Marbely und der Butler warteten vergeblich auf das Lächeln in Henschels Gesicht. Sein Grinsen war endgültig zur Grimasse geworden. Die sonst so strahlend blauen Augen blieben auf den Steinboden der Kerkerzelle geheftet.
Der Butler las den Beginn der Rede vor, die der sogenannte Führer vor den Männern des Bundes 88 hatte halten wollen: „Volksgenossen! Wir stehen an der Schwelle zu einem neuen Goldenen Zeitalter, der Fortsetzung des Tausendjährigen Reiches, dessen ruhmreiches Wirken durch hinterhältige Feinde einige Zeit unterbrochen worden ist. Mit dem heutigen Tag jedoch kann ich als euer Führer ein Wiederaufblühen der alten Größe verkünden, einen triumphalen Neubeginn, der alles in den Schatten stellen wird, was wir bisher erlebten. Wir haben die finanzielle Grundlage, unsere Pläne in die Tat umzusetzen, um diesem geschundenen Land die Würde zurückzugeben, die es verdient …“ Der Butler hielt in seiner bewusst zurückhaltenden Lesung inne, dann fragte er den auf der Holzpritsche Liegenden: „Und wer hat das für Sie geschrieben?“
Alexander Henschel schwieg.
„Wir wissen, Herr Henschel, dass es einen Mastermind im Hintergrund gibt und Sie nur Befehle ausführten. Ein Umstand, der vor Gericht zu Ihren Gunsten ausgelegt werden kann. Jedoch nur, wenn Sie uns verraten, wer die Drahtzieher sind.“
„Ich bin der Führer“, stöhnte Henschel mit belegter Stimme. „Ich übernehme die Verantwortung für alle Worte und Taten, die in Zusammenhang mit unserer großen Idee stehen, die übrigens auch durch Ihr bedauerliches Eingreifen nicht zum Stillstand kommen wird.“
„Da bin ich anderer Meinung“, widersprach der Butler. „Die finanzielle Unterstützung Ihrer Gruppierung, von der hier die Rede ist, wird es nicht geben. Lady Marbely wird weiterleben, und all ihr Besitz und der des verstorbenen Jakob Aufhauser bleibt in ihrer Hand.“
„Mein Testament“, schaltete sich die Lady in das Gespräch ein, „zugunsten von Stefan Obermann und Ihrer Tochter Ruth ist hinfällig. Erstens, weil ich lebe, und zweitens, weil Sie nicht auf die Idee kommen sollen, auch noch die beiden zu töten, nur um an das Geld heranzukommen.“
„Ich hatte nie vor, meine Tochter zu töten“, protestierte Henschel heftig.
Im selben Moment meldete sich das iPhone des Butlers, der sofort für einen Augenblick die Zelle verließ. Nach Beendigung des Gesprächs kam er zurück und sagte: „Wenn Sie uns sonst nichts mitzuteilen haben, werden Sie nach Frankfurt gebracht. Oder gibt es noch etwas, das Sie loswerden möchten?“
„Nein. Meiner Tochter wäre nichts geschehen, doch alles andere musste leider sein, um an unser Ziel zu gelangen.“
„Der Mann hat kein Gewissen.“ Der Butler kniff seine Lippen zusammen. „Für sein Ziel ist er über Leichen gegangen.“
Milady nickte seufzend.
Der Butler führte die Lady zu seinem Wagen. „Ich schlage vor, wir statten dem jungen Obermann einen Besuch ab. Auch er wurde in die Justizvollzugsanstalt Frankfurt I gebracht.“
„Als Mastermind hinter all den perfiden Plänen dieser Verrückten kann ich mir den scheuen jungen Mann wirklich nicht vorstellen“, gab die Lady zu bedenken. „Er war sehr reizend zu mir, im Blockhaus. Nicht umsonst änderte ich mein Testament zugunsten dieser jungen Leute. Auch wenn es nicht ganz ernst gemeint war.“
*
Der Verkehr wurde dichter, als sie sich ihrem Ziel, der Justizvollzugsanstalt I, im Frankfurter Stadtteil Preungesheim näherten. Der moderne, in unfreundlichem Grau gehaltene Gefängniskomplex bestand aus eng aneinandergebauten drei-bis fünfstöckigen Bauteilen, mit ein oder zwei Untergeschossen. Ein Justizbeamter erklärte stolz die Vorzüge der erst 2010 eröffneten Anstalt für Untersuchungshäftlinge. Sie ermöglichte humane Haftbedingungen und entsprach, seinen Worten zufolge, modernen Sicherheitsstandards. Dabei führte der Mann den Butler und seine Begleiterin in die Besuchsabteilung, die in Gebäude F untergebracht war. Sie nahmen an einer der fünfzehn Sitzgruppen, die aus schmucklosen Tischen und Sesseln bestanden, Platz und warteten auf Stefan Obermann, der wenig später von zwei Beamten in den Saal geleitet wurde. Sie befanden sich allein in der Halle, da sie außerhalb der vorgesehenen Besuchszeiten gekommen waren.
Der junge Mann lächelte, als er Milady erkannte, und drückte ihre Hand. Den Butler beäugte er misstrauisch. „Es freut mich, dass Sie mich besuchen, Milady …“
„Ich bin und bleibe Amanda für Sie.“ Lady Marbely nickte ihm aufmunternd zu. „Erzählen Sie bitte, was passiert ist, Stefan!“
„Die Welt ist in den letzten Tagen eine andere geworden. Das Blockhaus wurde niedergebrannt, meine Stiefmutter erschossen, und ich werde des Mordes verdächtigt, weil …“
„Weil“, unterbrach ihn der Butler, „auf der Waffe, mit der Ihre Stiefmutter getötet wurde, Ihre Fingerabdrücke gefunden wurden.“
„Das ist richtig.“
„Und wie erklären Sie sich das?“, fragte der Butler streng.
„Ich habe dafür leider keine Erklärung“, entgegnete der junge Mann. „So sehr ich darüber nachdenke, so wenig verstehe ich das Geschehen.“
„Es macht nur Sinn“, fuhr der Butler fort, „wenn Sie der Kopf, das Gehirn, dieses Bundes 88 wären, der aus Machtgier letztlich die eigenen Leute hinters Licht führen wollte …“