Milady hatte feuerrote Wangen bekommen. „Im Falle von Dornröschen ein gefährliches, blutrünstiges Wesen, dem nur ein einziger Prinz …“
„Therapeut“, meldete sich Dr. Winter zu Wort.
„… gewachsen ist“, vollendete der Butler den Satz.
„Und das nur im Märchen“, betonte die Therapeutin.
„Sehen Sie, Frau Doktor“, sagte der Butler. „Und ebendieser Umstand gibt Anlass zur Sorge. Dornröschen wird seinen Weg weitergehen, gnadenlos. Und auch vor seiner Therapeutin nicht haltmachen.“ Der Butler hatte sich bei diesen Worten erhoben, war zum Fenster gegangen und blickte auf die Straße, wo genau in diesem Moment acht Männer in braunen Uniformen aus einem weißen Kastenwagen sprangen. „Wir müssen weg von hier! Folgen Sie mir!“
„Was ist?“ Die Therapeutin zögerte. „Sollte Gefahr durch das Treppenhaus kommen, so können wir nicht fliehen. Es gibt keinen anderen Weg.“
„Doch, den gibt es“, widersprach ihr der Butler. „Ich habe mir erlaubt, vorab den Bauplan dieses Gebäudes zu studieren. Rasch, mir nach! Über den Dachboden zum nächsten Treppenhaus. Schnell, aber lautlos.“
Als sie die Stiege zum Speicher hocheilten, hörten sie schwere Tritte im Treppenhaus. Es folgte das Geräusch von splitterndem Holz. Die Tür zur Praxis!
Der Butler verständigte die Männer der Antiterrorgruppe. „Wir warten hier ab, bis die Aktion abgeschlossen ist. Alles andere wäre zu gefährlich.“
Die beiden Frauen nahmen leicht verstört auf den Steinstufen Platz.
„Dornröschens letzter und verzweifelter Versuch, an Geld und Macht zu kommen“, bemerkte der Butler.
„Eine traurige Entwicklung“, stöhnte die Therapeutin. „Ich glaubte lange Zeit daran, dass eine Behandlung erfolgreich sein könnte.“
„Es gibt Prinzessinnen, denen kein Prinz helfen kann“, warf der Butler ein.
„Ich denke, dass ein Mann, ein männlicher Therapeut, der ihr gewachsen wäre, vielleicht Erfolg gehabt hätte. Ich hätte rechtzeitig abbrechen müssen.“
„Sie sprechen in Rätseln! Sie beide!“, unterbrach Lady Marbely empört das Gespräch zwischen der Psychotherapeutin und dem Butler. „Wer versteckt sich hinter Dornröschen?“
„Die Mörderbande im Nebeneingang wurde von einer Frau geschickt“, erklärte der Butler. „Einer Frau, in deren jungen Jahren etwas Dramatisches passierte. Etwas, das sie zu einem machthungrigen, mordbereiten Monster werden ließ.“
„Ein schwerer Autounfall“, schaltete sich die Therapeutin ein. Sie zuckte kurz zusammen, als von der Straße her Gewehrfeuer zu hören war. „Als das Mädchen, oder die junge Frau, fünfzehn war, verunglückte ihr Vater mit dem Auto. Bei dem Unfall wurde die Mutter, die auf dem Beifahrersitz saß, getötet, der Vater regelrecht skalpiert. Er war von diesem Tag an durch eine Nervenverletzung in seinem Gesicht zu immerwährendem Lächeln verdammt, auch wenn ihm selten danach war. Der Mann litt unter der Schuld, die er auf sich geladen hatte. Er war alkoholisiert, als er den Wagen gegen einen Baum steuerte.“
Lady Marbely begriff die Zusammenhänge.
„Sie hatte im Fond des Autos gesessen und eine traumatische Gehirnverletzung erlitten“, fuhr Dr. Winter fort. „Nach mehr als drei Monaten im Koma wachte sie auf, konnte sprechen, verstand, was man ihr sagte. Die junge Frau schien intellektuell nicht beeinträchtigt zu sein. Sie ging zurück in ihr Internat.“
„Nach hundert Tagen Schlaf“, sagte Lady Marbely. „Und das unglückliche Mädchen ist Ruth Henschel.“
Die Therapeutin nickte. „Sie war durch diesen Unfall und durch den Verlust der Mutter zutiefst verletzt worden, sie hätte damals nicht nur medizinische, sondern auch psychologische Hilfe benötigt. Stattdessen musste sie zurück in die Schule, in der sie aber ihren einzigen wahren Freund fand, den jungen Stefan Obermann. Der bemerkte natürlich, dass Ruth ein völlig anderer Mensch geworden war, dennoch hielt er treu zu ihr.“
„Ein böses, modernes Märchen“, sagte Lady Marbely.
„Ein sehr böses Märchen. Ich erhielt in der Lehrtherapie Einblick in die Gedankenwelt Ruth Henschels, und glauben Sie mir, das war keine märchenhafte Welt. Sie entdeckte die Macht, die sie über andere Menschen hatte. Zuerst über den schuldbewussten Vater, den sie als Marionette für ihre Ziele benutzte. Ein durch und durch dummer Mann, dessen moralische Qualitäten … höflich gesagt, ziemlich zweifelhaft waren. Sie erkannte irgendwann seine Bereitschaft zu skrupellosen Taten, um seine idiotischen Ziele voranzubringen. Sie benutzte ihn und die Gruppe, der er vorstand, als Mordwaffe. Durch ihre Ausbildung zur Psychotherapeutin vervollständigte sie ihr Wissen über die Seelen anderer Menschen. Ich hätte es besser wissen müssen, glaubte aber an die heilende Wirkung meiner Arbeit.“
„Wo ist sie?“, fragte Lady Marbely.
„Im Maybach. Sie fährt Ihren Wagen, Milady. Er bietet ihr optimalen Schutz vor der feindlichen Umwelt.“
„Ein Glassarg“, seufzte die Lady.
„Wenn Sie mir diesen Einwurf gestatten, Milady. Das ist ein anderes Märchen …“ „Schon gut, James. Wie können wir sie finden?“
„Mithilfe des Startschlüssels. In ihm befindet sich ein Sender, der sich orten lässt.“
„Das haben Sie wunderbar eingerichtet“, gab sich Lady Marbely vorwurfsvoll.
Der Butler lächelte wie ein Junge. „Was tut man nicht alles, um nicht völlig die Kontrolle über das menschliche Umfeld zu verlieren.“
*
Der Maybach stand am Ufer der Sieg. Durch die verspiegelten Scheiben konnte man nicht in das Innere blicken, doch vernahm der Butler über das Abhörgerät im Startschlüssel Atemgeräusche. „Dieser Maybach ist uneinnehmbar. Wir können nur sicherstellen, dass sie von hier nicht entkommt“, erklärte er der Lady und ließ die Zufahrt von Einsatzfahrzeugen der GSG 9 blockieren, dann griff er zu seinem iPhone und führte ein längeres Gespräch.
Eineinhalb Stunden später kam ein Polizeiwagen mit Frankfurter Kennzeichen, in dem sich Stefan Obermann befand. Der Butler begrüßte ihn mit einem herzlichen Händedruck. „Ihre Haftzeit ist beendet. Ich konnte den Untersuchungsrichter von Ihrer Unschuld überzeugen, muss Sie allerdings im Gegenzug bitten, uns zu helfen. Bitte versuchen Sie mit Ihrer Freundin zu sprechen.“
Der junge Obermann zuckte müde mit den Schultern. „Wenn sie nicht reden will, hat man keine Chance.“
„Sie kennen ihre Handynummer. Bitte nehmen Sie meins und rufen Sie sie an. Sie stellen sich bitte neben den Wagen, damit sie sieht, wer mit ihr sprechen will.“
Stefan Obermann ging vor, tippte gehorsam auf dem Handy des Butlers herum und nach kurzer Wartezeit begann er zu sprechen. Wenige Minuten später kam Stefan Obermann zurück und reichte dem Butler das iPhone. Er hatte Tränen in den Augen. „Ruth hat den Wagen jetzt geöffnet. Aber … Aber sie hat etwas eingenommen. Sie hat etwas von einem Teufelspakt gesagt, den sie beenden wolle. Sie … sie ist … ich glaube, sie ist … tot.“
*
„Ich werde dem jungen Obermann eine Stelle in der Firma anbieten“, sagte Lady Marbely zu ihrem Butler im Fond des Maybachs, der von ihrem Chauffeur zum Siegener Flugplatz gesteuert wurde. Die Lady wollte möglichst rasch zurück auf die Insel. Zumindest für ein paar Tage. Die ganze Geschichte war ihr sehr nahe gegangen. „Bitte laufen Sie nicht weg“, verabschiedete sich die Lady von ihrem Butler. „Ich brauche Sie an meiner Seite. Nicht, um die Welt besser, sondern sie um ein winziges Stück weniger schlecht zu machen.“
„Das haben Milady, wenn Sie mir dieses Lob gestatten, perfekt formuliert.“
Zum ersten Mal schafften es beide, gemeinsam zu lachen.
Keine Viertelstunde später dröhnte der Learjet von Lady Marbely durch die Wolken des Siegerlandes.