»Cally, du kannst nicht immer zwanzig bleiben«, probierte Wendy es noch einmal.
»Ich bin schon seit bald dreißig Jahren nicht mehr zwanzig.« Sie ließ sich in den Stuhl plumpsen und streckte die Beine aus, verschränkte die Arme, lehnte sich zurück und musterte die beiden argwöhnisch. »Okay, raus mit der Sprache. Was habt ihr beiden vor?«
Shari setzte sich, ließ Annie zu sich auf den Schoß steigen und blickte über das Meer hinaus. Der Wind blies ihr das Haar aus dem Gesicht, und sie kniff die Augen zusammen, damit sie keinen Sand hineinbekam.
»Cally, dieses Leben taugt nicht mehr für dich. Falls es je für dich getaugt hat. Du bist nicht glücklich. Wann wirst du dir endlich ein eigenes Leben genehmigen und sesshaft werden?«, fragte sie.
»Du weißt, mit welchen Gefahren wir es zu tun haben. Ich tue Dinge, zu denen nur ganz, ganz wenige Leute fähig sind. Dinge, die getan werden müssen, damit andere Leute sesshaft werden können.« Sie setzte sich auf, beugte sich in ihrem Stuhl nach vorn und stützte die Hände auf die Knie. »Schau mal, falls ich jemals dem richtigen Mann begegnen sollte, werde ich diese Sache mit Kindern und so auch machen. Ich … bin ihm einfach noch nicht begegnet. Und das Vorurteil gegen uns Runderneuerte hilft auch nicht gerade. Ich will mich ja nicht beklagen, aber es ist schwierig, sich näher mit einem Typen einzulassen, wenn man alt genug ist, um zu wissen, dass er ein unreifer Idiot ist.«
»In irgendwelchen Bars wirst du nie dem Richtigen begegnen«, schaltete Wendy sich ein und reichte ihr ein Päckchen mit Saft. »Schau mal, ich kann’s ja verstehen, dass du nicht besonders scharf auf das Vermittlungsprogramm von unserem Verein bist. Hey, mir würde das auch auf den Geist gehen. Aber wenn ich Tommy und Papa ansehe, dann kennen die garantiert wenigstens ein halbes Dutzend anständige Kerle, die mit dem größten Vergnügen eine Frau hätten, vor der man nicht alles verheimlichen muss, ich meine, Himmel noch mal, was würde es denn schaden, wenn die beiden dir mal die eine oder andere Verabredung verschaffen würden?«
»Was es schaden würde?«, fragte Cally mit ausdrucksloser Stimme, und ihre Augen waren plötzlich leer. »Das ist ganz einfach: emotionale Bindungen zu jemandem zu haben, der dann plötzlich im gleichen Einsatzteam wie ich steckt, könnte dazu führen, dass er oder ich gefangen genommen oder gar getötet wird. Von seiner Seite mal ganz zu schweigen. Wer möchte schon eine Frau, die sich auf Dinge einlässt, wie ich das tue? Ich bin gut, aber dass ich bis jetzt erst einmal gestorben bin, ist reines Glück, und das hält nicht ewig vor. Das Einzige, was für einen weiblichen Auftragskiller noch schlimmer ist als das Todesrisiko, ist das Risiko einer erfolgreichen Ehe.«
Shari zuckte zusammen und hielt Annie die Ohren zu. »Über so etwas redet man nicht!«, flüsterte sie.
»Hast du’s kapiert?« Sie zog einen Becher und eine Flasche heraus, drückte den Inhalt des Saftpäckchens in den Becher und goss einen kräftigen Schuss klarer Flüssigkeit hinein. »Möchtest du?« Sie hielt Shari den Becher hin.
Shari griff sich an den Leib. »Nein, ich … das geht nicht.«
Cally grinste. »Da haben wir’s! Kein Wunder, dass du mich verkuppeln willst. Du möchtest, dass ich schwanger werde, dann wärst du nicht allein!«, witzelte sie und lächelte dann wieder. »Gratuliere!«
»Echt?« Wendy legte ihrer besten Freundin die Hand aufs Knie. »Unter Freundinnen macht man über so etwas doch keine Witze? Gratuliere! Oh, das ist wirklich großartig. Wir werden Eiscreme essen und uns gemeinsam aus der Kurve tragen lassen! Komm, nimm einen Saft.«
»Da, siehst du, was du verpasst?« Sie wandte sich wieder Cally zu. »Versprichst du mir, dass du wenigstens in Erwägung ziehst, dir von Tommy ein Date verschaffen zu lassen? Wenn du willst, brauchst du nicht einmal allein mit ihm zu gehen — wir könnten mitkommen.«
»Ups. Jetzt musst du einfach, Cally Ich mach den Babysitter. Sie und Tommy waren schon seit einer Ewigkeit nicht mehr aus, das ist einfach deine Pflicht für deine besten Freundinnen auf der ganzen Welt.«
»Meine einzigen Freundinnen auf der Welt«, korrigierte Cally und verzog das Gesicht. »Nicht, dass ich euch beide nicht zu schätzen wüsste — ich meine, zumindest dann, wenn ihr nicht versucht, mich mit Tommys oder Grandpas Angelkumpels zu verkuppeln.«
Aber als die beiden sie dann finster anblickten, gab sie nach. »Okay, okay, ich werde darüber nachdenken. Sobald ich von diesem nächsten Einsatz zurück bin.«
»Einem kurzen Einsatz, will ich doch hoffen?«, fragte Shari.
»Ihr wisst, dass ich darüber nicht reden darf. Aber ihr solltet keine zu große Hoffnung darauf setzen.« Sie benutzte den leeren Saftbehälter, um ihren Drink umzurühren, und nahm einen Schluck, ehe sie auf ihren PDA sah. »Alles in Ordnung. Immer noch scharf, immer noch am Scannen, keine Spuren.«
Der Rest des Nachmittags war ein richtiges Idyll. Sie spülten die Krabbensalat-Sandwiches mit Saft und Limonade hinunter — nun ja, Cally trank ein Bier. Dass sie Postie-Wache hatte, hatte nichts zu besagen, da sie, seit sie erwachsen war, Alkohol gegenüber stets immun gewesen war. Die Kinder sprachen dem Käsegebäck nicht sehr zu — es machte viel mehr Spaß, es an die Möwen und den Hund zu verfüttern. Da Sandy von Käsegebäck begeistert war, genauso begeistert wie vom Möwenjagen, gewann sie normalerweise jedes Rennen, wenn man ihr wieder ein Stück zuwarf.
Duncan und James spielten gern mit Cally Ball, da sie ihn meistens auch dann fing, wenn der Wurf nicht so besonders war. Und die beiden Kids fingen ihn im Allgemeinen, weil sie ihn selbst aus fünfundzwanzig Meter Entfernung sehr genau in ihre Hände platzieren konnte. Cally überlegte, dass den Jungs, die kaum Kontakt mit nicht voll aufgewerteten erwachsenen Frauen gehabt hatten, eines Tages ein schlimmes Erwachen bevorstand. Sie hätte den Ball auch aus doppelter Entfernung genau auf den Punkt werfen können, aber das wäre handwerklich schlecht gewesen. Wenn Fremde am Strand gewesen wären, hätte sie nicht einmal so gut geworfen.
Am Nachmittag trug sie die schlafende Annie für Wendy die Treppe hinauf und schnallte sie in den Kindersitz in ihrem Van, während die älteren Jungs die Klappstühle und die sonstigen Sachen hinten verstauten. Ein paar Sekunden später kletterte Mike auf den Sitz neben seiner kleinen Schwester, worauf seine Schuhe, die offenbar registriert hatten, dass ihr Besitzer nicht mehr stand oder ging, die Hologramme abschalteten.
»Das sind wirklich nette Schuhe«, sagte Cally, als sie zum hinteren Teil des Wagens ging, wo ihre Freundinnen darauf warteten, sich von ihr zu verabschieden, »aber ich war etwas überrascht, dass diese Gefechte stumm sind. Als wir noch Kinder waren, hatten sie nette Geräuscheffekte.«
»Schsch.« Wendy hielt sich den Finger an die Lippen und musste ein Lachen unterdrücken. »Tommy hat das am ersten Abend abgeschaltet.«
Cally hatte verstanden. Jetzt spürte sie, wie ihr ein kleines Stückchen Papier in die Hand gedrückt wurde, und blickte fragend zu Shari auf.
»Das ist ein Zeitpunkt und eine Nummer für deinen Großvater. Ruf ihn an«, sagte sie.
»Was? Am Telefon?« Sie strich sich über ihr Bikinihöschen. Immer noch feucht. Sie würde auf einem Handtuch nach Hause fahren. Dann arbeitete ihr Verstand wieder, und sie sah Shari verblüfft an. »Telefon? Warum Telefon?«
»Es geht um etwas, das wir, die wir nicht in der Welt der Dienste leben, ein persönliches Gespräch nennen, Cally.« Shari klopfte ihr übertrieben bedauernd auf den Rücken und fuhr dann etwas ernster fort: »Er will bloß mit dir reden. Keine Fachsimpelei, nichts über Einsätze, einfach bloß ein Besuch. Okay, du wirst irgendwo ein Zahltelefon benutzen, aber … ruf einfach deinen Großvater an, ja?«
»Ja, freilich.« Sie drückte die beiden ein wenig verlegen an sich. »Okay, nun, dann heißt das wohl Wiedersehen bis zum nächsten Mal.«