Als es sieben Uhr wurde, hatte er einen weiten Bogen geschlagen und war wieder an der Nordfassade des Tower eingetroffen. Sie ließ ihn an sich vorbeigehen und tauchte in der Menge hinter ihm unter, fuhr die Räder ein, stopfte Helm und Sonnenbrille in den Rucksack zurück, veränderte ihre Haltung ein wenig, schob die Ohrstöpsel in die Tasche und schluckte den Kaugummi runter. Schluss mit Rollerblade, Baby.
Die Bedienung des Coffeeshop war erfreut, ihr einen großen Cranberry-Saft und einen Apfelstrudel zu verkaufen, worauf sie sich wieder mit ihrem Skizzenblock beschäftigte. Sie plauderte ein wenig mit dem jungen Mann, der sie bediente und der gelegentlich herauskam, um irgendwelche Abfälle von den Tischen zu räumen, aber nur dann, wenn sie nicht gerade so tat, als sei sie mit ihrer Zeichnung beschäftigt. Die Zielperson verließ das Gebäude nicht zum Mittagessen. Entweder gab es in dem Gebäude eine Kantine oder dergleichen, oder er ließ das Mittagessen ausfallen oder besorgte es sich aus einem Automaten. Eine der drei Möglichkeiten traf wohl zu. Nicht, dass es ihr etwas ausgemacht hätte, sitzen zu bleiben und die anderen Uniformierten zu beobachten. Fleet Strike legte entweder großen Wert auf körperliche Fitness oder sie hatten Ärzte, die auf den Grundumsatz der Schreibtischtäter achteten. Eine ganze Menge dieser jungen — na ja, jung aussehenden — Männer hatten wirklich knackige Hintern.
Gegen zwei brachte sie ihren Wagen in das Parkhaus, das unmittelbar neben dem von Fleet Strike lag. Wenn es nicht Freitagnachmittag gewesen wäre, hätte sie nicht die geringste Chance gehabt, einen Platz in der Nähe der Treppe und des Ausgangs zu ergattern, aber an den Freitagen gab es immer Leute, die früher Feierabend machten. Zum Glück war die Halle praktisch leer, trotzdem sah sie sich sorgfältig um, als sie den Gitterzaun aufschnitt, der die beiden Parkdecks voneinander abgrenzte, und dann über die niedrige Betonmauer kletterte. Ein einzelner Agent würde unmöglich einen Wagen ohne irgendwelche elektronischen Hilfsmittel durch die Straßen Chicagos beschatten können. Wenn man nicht so nahe dranblieb, dass man auch leicht entdeckt werden konnte, würde einen der Verfolgte nach zwei Blocks verlieren, ohne sich auch nur Mühe geben zu müssen. Sie musste sich dreimal vor Parkhausangestellten verstecken, bis sie schließlich den Wagen fand, den ihr die Zulassungsbehörde von Illinois freundlicherweise als den auf ihre Zielperson zugelassenen benannt hatte.
Petane gehörte offenbar zu den Leuten, die an diesem Freitagnachmittag früher Schluss machten. Es war noch nicht ganz halb fünf, als er mit einer Sporttasche in der Hand herauskam und auf das Parkdeck zuging. Für sie hatte das den Vorteil, dass so früh am Nachmittag die Bürgersteige noch einigermaßen frei waren, was es ihr ermöglichte, ihre Räder wieder auszufahren und zwischen den Fußgängern durchzurollen, dabei hie und da auf eine Feuerwehrspur zu gehen und dort langsame Fußgänger zu überholen und wieder zu ihrem Parkdeck zurückzukehren, ohne durch zu auffällige Hast seine Aufmerksamkeit zu erwecken, ehe er das seine erreichte.
Sie zahlte am Automaten an der Ausfahrt und fuhr hinaus, aber jemanden solo zu beschatten war immer eine knifflige Sache. Manchmal hatte man gar keine andere Wahl als das Zielobjekt aus den Augen zu lassen, und manchmal verlor man es auch ganz. In dem Fall gab man sich natürlich dann alle Mühe, die Zielperson wieder einzufangen. Bei einem Einsatz wie diesem war es besser, ihn eine Weile zu verlieren als zu nahe an ihn heranzukommen und dabei zu riskieren, dass er einen entdeckte. Und im Übrigen hatte sie ja notfalls Hilfe zu erwarten. Sie sah auf ihren PDA, dessen Bildschirm einen großen roten Knopf zeigte. Wenn sie ihn verlor, brauchte sie bloß diesen Knopf zu drücken, dann würde seine Barke angepeilt werden. Sein Standort würde dann auf dem Stadtplan von Chicago angezeigt werden, den sie sich heruntergeladen hatte. So wie die Straße und das Garagengebäude angeordnet waren, war sie ohnehin auf Vermutungen angewiesen. Wahrscheinlich führte der Weg zu Standort B am besten westlich über den Lakeshore Drive, während sein Zuhause am besten auf östlicher Richtung über die 94 zu erreichen war. An einem Freitag war Standort B wahrscheinlicher. Sie hatte die Sonnenbrille wieder aufgesetzt und konnte das Gesicht daher leicht von der Ausfahrt des anderen Parkhauses abwenden, dabei aber weiterhin die herauskommenden Fahrzeuge nach Petanes Ford Arabian absuchen. Ihr Atem wurde ruhiger, als er am Steuer des feuerroten Sportwagens auftauchte. Das Logo mit dem sich aufbäumenden Pferd am Kühlergrill war nicht zu übersehen.
Die Verfolgung war nicht einfach, sie musste weit genug zurückbleiben, um von ihm nicht bemerkt zu werden, aber doch nahe genug, um ihn nicht zu oft aus den Augen zu verlieren. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Peilsignal entdeckt wurde, war zwar gering, aber nicht ganz zu vernachlassigen. Dass sie wusste, wohin ihn sein Weg führte, half natürlich. Die von Petane gewählte Route war offenkundig und direkt, eben das Verhalten eines Mannes mit festen Angewohnheiten, der sich sicher fühlt. Das Apartment. zu dem er fuhr, befand sich in einem Gebäudekomplex einer Vorstadt, in dem Angehörige der unteren Mittelklasse wohnten. Nachdem er das Gebäude betreten hatte, beobachtete sie es sorgfältig und wartete darauf, dass irgendwo Licht eingeschaltet wurde. Das war nicht unproblematisch, da es ja noch Tag war, aber eine andere Möglichkeit hatte sie nicht. Glücklicherweise schalteten die meisten Leute die Innenbeleuchtung schon ein, wenn das Tageslicht noch ausgereicht hätte, und Petane und die Person, mit der er sich traf, bildeten da keine Ausnahme. Nun ja, wahrscheinlich war das jedenfalls die richtige Wohnung. Ein guter Anfang. Der abendliche Stoßverkehr hatte noch nicht eingesetzt, und so konnte Cally den verlassenen Parkplatz nutzen, konnte unauffällig zum Gebäudeeingang hinübergehen und mit dem Körper den Türknopf abdecken, während sie das altmodische, noch mit einem Schlüssel zu sperrende Schloss knackte. Um die Wohnungsnummern in den richtigen Zusammenhang zu bringen, musste sie die Apartments im Erdgeschoss und im ersten Stock betrachten.
Als sie dann die Adresse hatte, war es ein Kinderspiel, durch die Hintertür bei der Telefongesellschaft die Telefone in Apartment 302 C ausfindig zu machen, die in Benutzung waren, und sie binnen Sekunden zu verwanzen. Trifft der Kerl denn überhaupt keine Vorsichtsmaßnahmen? Sie schaltete ihren PDA so, dass die Audioaufnahme auf einem Würfel gespeichert und in Echtzeit abgespielt wurde. Den Geräuschen nach zu schließen und da Petanes Vorname »Charles« war, hatte sie das richtige Apartment für seine Freundin. Sie rief ihre Notizen von der Kamerasuche auf. Es hat immer etwas leicht Obszönes an sich, einer Zielperson beim Vögeln zuzuhören. Okay, wie es aussieht, besucht er seine Freundin Montag, Mittwoch und Freitag. Vielleicht nicht so regelmäßig, aber jedenfalls scheint er ein Gewohnheitstier zu sein. Wenn ich die Freundin betäube und einen Geräuschdämpfer mitbringe, kann ich ihn hier verhören — offiziell wird man ihn erst dann vermissen, wenn seine Frau unruhig wird, und Fleet Strike bemerkt möglicherweise erst am nächsten Morgen etwas. Wenn ich noch mal nachsehe, nachdem ich nach dem Job sauber gemacht habe, verwandle ich mich in Sinda und bleibe auf dem Radar. Also Montag. Herzanfall. Freundin wacht etwas benommen auf, kann sich nicht richtig erinnern und findet neben sich eine Leiche. Kein schöner Tagesbeginn für sie, aber ein sauberer Hit, bei dem sie am Leben bleibt. Flunitrazepam und Alkohol für sie, ein Cocktail aus Viagra, Insulin und Koks für ihn, eine richtig nette, kleine Party. Zuerst werde ich mit dem Kotzbrocken sanft umgehen müssen, auf die freilich sehr geringe Chance hin, dass an dem Burschen mehr dran, ist als man auf den ersten Blick erkennen kann und er sich als der große Treffer erweist. Na ja, wir werden sehen.