Die Lektion hatte sie sich gemerkt.
Diese Videos hier zeigten einen äußerst beruhigenden Mangel an Überraschungen, und als sie zum Mittagessen ging, fühlte sie sich einigermaßen sicher, dass diese Solooperation recht glatt ablief.
Den Rest des Sonntags gab sie sich alle Mühe, nicht zu sehr unter den Nachteilen jeglicher Art von Überwachungstätigkeit zu leiden — nämlich der Langeweile. Glücklicherweise hatten ihr die Kameras so viel Arbeit abgenommen, dass sie wesentlich mehr Freiheiten hatte, als das in der Zeit vor dem Krieg der Fall gewesen wäre. Sie sah sich einen Film an und verbrachte einige Stunden in einem Fitnessstudio mit Hip-Hop.
Nach dem Abendessen legte sie sich schlafen. Es gab eine Unzahl chemischer Ersatzmöglichkeiten für Schlaf, und für einige davon war sie nicht einmal immun, aber keine davon war so wirksam wie das einzig Wahre. Morgen würde es ein langer Tag werden.
Montag, 20. Mai
Um vier Uhr morgens kämpfte sie immer noch mit der Müdigkeit, als die erste Krise des Tages einsetzte und sie fluchend vor der überlaufenden Hoteltoilette stand. Das dafür erforderliche Werkzeug war natürlich nicht vorhanden. Sie warf die Handtücher auf den Boden, arbeitete sich angewidert auf Zehenspitzen an die Hinterseite des Dings und kauerte sich nieder, um hinten das Wasser abzustellen. Dann trottete sie zum Waschbecken hinaus und benutzte den letzten sauberen Waschlappen, um sich das Gesicht zu waschen und sich einigermaßen sauber zu machen. Okay, dann muss heute eben der Hausmeister hier rein. Lässt sich nicht vermeiden. Muss ich eben alles einpacken.
Um fünf stand sie an der Hoteltheke, gab sich alle Mühe, nicht mit den Fingern auf die Theke zu trommeln oder — was noch besser wäre — den Angestellten dahinter zu erwürgen, während sie ihn anbrüllte, gefälligst seinen Hintern in Bewegung zu setzen. Offensichtlich setzte das Hotel nicht gerade seine besten Leute für die Nachtschicht ein. Es war beinahe halb sechs, bis der Trottel es schließlich geschafft hatte, jemanden für ihr altes Zimmer zu bestellen, sie auszubuchen und sie für den nächsten Tag in ein anderes Zimmer neu einzubuchen. Sie stopfte sich die Schlüsselkarte in die Tasche und ging. Es hatte keinen Sinn, ihre Sachen — das Wenige, was sie mit hatte — wieder aus dem Kofferraum zu holen, und eine Menge gute Gründe, es bleiben zu lassen.
Sie stieg in ihren Wagen und saß einen Augenblick lang da, ohne den Zündschlüssel umzudrehen. Eigentlich muss ich diesen Dreckskerl ja nicht umbringen. Sie knirschte mit den Zähnen, ließ den Motor an und rollte von dem Parkplatz in den noch schwachen, aber zusehends dichter werdenden Verkehr. Unwillkürlich schüttelte sie den Kopf, als sich vor ihrem inneren Auge das Bild eines hoch gewachsenen Mannes — hoch gewachsen für eine Achtjährige — aufbaute, der stumm dastand und die Saurierziele aufstellte, als sie in Schussweite kamen. Die Hand auf ihrer Schulter, die sie stützte, damit sie den Gravkarabiner wieder aufs Ziel richten konnte. Sicher muss ich das nicht. Keinen würde es kümmern, wenn ich es nicht täte … keinen, außer die Toten. Und mich muss ich jeden Tag im Spiegel sehen. Und Robertson in die Augen, wenn ich je wieder mit ihm arbeite. Und was Grandpa denken würde. Und ein Scheißverräter ist er auch und gehört umgebracht. Verdammt. Und er ist der Letzte. Der Letzte, dem ich es schuldig bin. Der Einzige, dessen Leiche ich nicht gesehen habe und dem ich nicht selbst die DNA-Werte entnommen habe. Und das sollte mir verdammt noch mal eigentlich eine Lehre sein, aber hinterher ist es bloß mehr Arbeit. Der Letzte.
Der Verkehr zur Wohnung seiner Freundin, wo sie die Kameras versorgen musste, war gar nicht schlimm. Ihr Name war Lucy Michaels, aber Cally zog es vor, ihre Beziehung zu einer Frau, die sie unter Drogen setzen und dann mit einem Toten im Bett liegen lassen würde, so unpersönlich wie möglich zu halten. Sie machte sich eigentlich ziemliche Mühe, vergleichsweise gesprochen, die Nicht-Zielperson am Leben zu lassen. Worth hätte das nicht getan. Selbst einige von den Bane Sidhe hätten es nicht getan. Aber sie würde sich besser dabei fühlen.
Die Zeit, die sie brauchte, um zu der ersten Kamera zu kommen und den Download vorzunehmen, ließ unglücklicherweise dem Montagmorgen-Verkehr genügend Zeit, dichter zu werden, und die Route quer durch die Stadt zum Haus der Zielperson war nicht gerade verstopft, aber viel fehlte daran nicht. An einer Verkehrsampel schob sie den Würfel mit ihrer Musiksammlung in die Audiokonsole und ließ sich den Katalog anzeigen. Mhm. Evanescence. Gutes Album. Ich frage mich immer noch, welchen Einfluss wohl die ersten Landungen und die Anpassung an das Leben in einer Urb auf sie gehabt haben. Aber das werden wir wohl nie erfahren.
Die Ampel schaltete um, und sie fuhr zu den ersten Klängen von »Going Under« an.
Als sie das Viertel ihrer Zielperson erreichte, war es kurz nach halb acht, und sie parkte gleich um die Ecke, aber noch in Reichweite für einen Download. Ein männlicher Agent wäre bestimmt nicht damit durchgekommen, so offensichtlich in einer Wohnstraße zu parken. Aber Cally schob sich einen Streifen Bubble Gum in den Mund, drehte die Anlage ihres Wagens auf eine zu einem Teenager passende Radiostation, drehte die Lautstärke ein wenig höher und fing dann an, sich die Nägel in einer äußerst trendigen Farbe zu lackieren. Jeder, der sie so sitzen sah, würde annehmen, dass das einfach bloß ein Teenager war, der auf seine Freundin wartete. Das grell rosa Frottee-Schweißband unter ihrem Haar und über der Stirn und das äußerst voluminöse T-Shirt und die grauen Sweat Pants waren eine Kluft, in der sich ein Teenager nicht einmal tot in der Mall würde sehen lassen, aber um am Morgen mit einer Freundin zu joggen, war das gerade richtig.
Während sie den Überlack aufpinselte, lief auf ihrem PDA ein Suchmuster ab, das die Videosegmente mit menschlichen Gestalten oder bewegten Fahrzeugen ausfilterte. Die Zielperson und seine Frau hatten offensichtlich einen ruhigen Sonntag zu Hause verbracht. Und, was das Wichtigste war, es gab keinerlei Anzeichen für unerwartete Hausgäste, nichts, was darauf hindeutete, dass außer der Zielperson und seiner Frau jemand dort wohnte. Wie erwartet, war die Zielperson bereits weg. Die Frau war noch da.
Sie schaltete die Kameras auf Echtzeit plus zwei Sekunden und schlug eine Modezeitschrift auf, die sie mit großem Interesse studierte. Jedes Mal, wenn eine menschliche Gestalt oder ein bewegtes Fahrzeug in das Sichtfeld der Kameras kam, piepte der PDA leise. Ein kurzer Blick auf den Bildschirm reichte aus, um ihr zu sagen, ob es sich dabei um die Frau der Zielperson handelte. Für eine Immobilienmaklerin fing sie recht spät an. Als die Frau schließlich kurz vor neun Uhr fünfzehn das Haus verließ, war Cally sorgsam darauf bedacht, ihren Wagen keines Blickes zu würdigen, als er an ihr vorbeirollte. Es würde keinen Augenkontakt geben, den die Frau bemerken und an den sie sich später erinnern würde.
Cally wartete eine gute Viertelstunde, ehe sie aus dem Wagen stieg und um die Ecke und dann die Straße hinunter zum Haus der Zielperson joggte. Das war die kniffligste Phase dieses Einsatzes. Sie musste von der Straße ins Haus der Zielperson und später wieder aus ihm heraus kommen, ohne gesehen zu werden oder zumindest dabei so alltäglich wirken, dass niemand sich an sie erinnerte. Sie bog ab, ging die Einfahrt hinauf und nach hinten zur Küchentür, als ob sie ihr Laufpensum erledigt hätte und nachhause zurückkehrte; währenddessen hoffte sie heiß und innig, überhaupt nicht gesehen zu werden.