»Buckley, wenn irgendjemand außer dir und mir dieses Haus betritt, solange wir hier drinnen sind, wirst du keinen Laut von dir geben, angefangen bei dem Augenblick, wo er, sie, es das Haus betritt, bis mindestens eine volle Minute, nachdem er, sie, es wieder gegangen ist. Ist das klar?«
»Schließt das den Würfelleser im Arbeitszimmer mit ein?«
Sie verdrehte die Augen. »Nein.«
»Und was ist mit dem Schloss und der Mikrowelle?«
»Nein!«
»Und mit dem AID auf dem Beistelltisch dort drüben?«
Sie fuhr herum, ihre Augen weiteten sich erschreckt, und dann stieß sie eine Verwünschung aus.
»War bloß ein Witz.«
»Buckley! Halt die Klappe. Sofern du nicht wieder einen Wagen siehst, der zu diesem Haus gehört, hältst du einfach die Klappe.« Sie biss sich auf die Lippen und gab sich alle Mühe, die Treppe nach oben nicht hinaufzurasen, sondern ging langsam und mit gemessenen Schritten. Im Bad schwamm eine Seidenbluse mit einem Kaffeeflecken im Waschbecken, der allmählich in der Seifenlösung verblasste.
Sie warf einen Blick in den Spiegel, pickte sich angewidert ein paar Flusen aus dem Haar und spülte sie die Toilette hinunter.
Es dauerte nur ein paar Augenblicke, das Päckchen mit dem kleinen Beutel voll weißem Pulver, dazu einen Löffel, ein kleines Fläschchen Äther und eine Nadel herauszuholen, eine winzige Menge Koks auf den Boden fallen zu lassen und dann das Päckchen mit frischem Isolierband hinten an der Unterseite des Waschbeckens zu befestigen. Sanft blies sie auf die winzige Menge von dem weißen Zeug, um es zu verteilen. Jetzt konnte man nichts mehr sehen, aber der Hund würde es mit Sicherheit riechen. Und sobald die toxikologischen Tests der Leiche da waren, würden sie einen Hund einsetzen.
Als sie gerade im Begriff war, die hintere Tür zu öffnen und hinauszugehen, hielt sie inne. »Buckley, Stimmzugang abschalten.«
»Aber dann kann ich ja nicht einmal um Hilfe schreien, wenn alles hochgeht!«
»Buckley, Stimmzugang abschalten.«
»Hab mir’s gleich gedacht.« Der PDA gab ein übertrieben langes, leidvolles Seufzen von sich und verstummte.
Cally klinkte sich in die Kommandoleitung ein und nahm einen Reset der KI-Emulation vor. Buckleys brachten nicht die beste Leistung, wenn man die Emulation zu hoch schaltete; sie ließen sich dann zu viele Gründe einfallen, um in Panik zu geraten. Gleich darauf streifte sie die Handschuhe ab und stopfte sie unter ihren schwarzen Sport-BH, den das zu weite T-Shirt verdeckte, und atmete tief durch. Ich gehöre hierher, ich gehe jetzt joggen. Sie trat durch die Tür ins Freie.
Als sie um das Haus herumging, unterdrückte sie eine Verwünschung. Sie war gesehen worden! Von einem kleinen, blonden Jungen von etwa vier Jahren, der ganz ruhig bemüht war, einen sehr geduldig aussehenden Golden Retriever an einen kleinen, grünen Wagen zu binden. Der Junge betrachtete sie ernst und legte den Zeigefinger auf die Lippen. »Schsch …« Ein etwas gequältes Kichern unterdrückend, legte Cally ebenfalls einen Finger auf die Lippen, ging die Einfahrt zur Straße hinunter und joggte dann um den Block herum zu ihrem Wagen. Sie sah sich nicht um. So wie sich das anließ, war dies nicht gerade ihr Tag.
Nachdem sie drei verschiedene Geschäfte aufgesucht hatte, verfügte sie über mehrere Paar Strumpfhosen, Kabelbinder und ein Päckchen billige Stofftaschentücher. Dann suchte sie eine Mall in der Nähe des Apartments der Freundin auf und machte dort bis zum Mittagessen einen Schaufensterbummel. Das war einer der Aspekte ihres Jobs, an den man sich nie gewöhnte. Sie hatte das zumindest bis jetzt nicht geschafft. Stunden um Stunden hektischer Hast, dann wieder Warten und dazwischen kurze Perioden hektischer Adrenalinstöße. Ihr Körper reagierte natürlich atypisch auf Adrenalin, ganz so, wie das bei den anderen Kolleginnen und Kollegen in der Sonderklasse ihrer Schule auch der Fall gewesen war. Wenn nicht zu Anfang, dann ganz sicherlich nach der Ausbildung und weiß Gott was für Manipulationen. Adrenalin löste eine Art Zeitdehnung aus, steigerte die Konzentration und stumpfte einen emotional ab. Aber Cally hatte Grund zu der Annahme, dass ihre eigene atypische Adrenalinreaktion etwas ganz Natürliches war, einfach weil sie sie schon Jahre vor der Schule gehabt hatte. Das war möglicherweise ein Familienerbstück.
Aber gegen Langweile half das überhaupt nicht. Jeder Agent hatte eigene Methoden, um damit klarzukommen. Einige von ihnen lasen. Andere spielten Spiele auf ihren PDAs. Einige sammelten die kompliziertesten Kreuzworträtsel, die sie in die Finger bekommen konnten. Und Cally ging zum Shoppen. Oh, natürlich nicht, wenn es strategisch von Vorteil war, unterzutauchen. Sie hatte für alle Fälle eine riesige Sammlung von bunten Katalogen. Aber hauptsächlich beobachtete sie die Leute, probierte Kleider oder Schuhe an und ließ sich die neuesten technischen Spielsachen erklären. Jemand hatte ihr einmal erklärt, dass dies eine Reaktion auf die Entbehrungen ihrer Kindheit war. Sie selbst war freilich der Ansicht, dass die Gehirnklempner totalen Blödsinn verzapften. Für eine junge, attraktive Frau gab es einfach keinen anonymeren und unauffälligeren Ort als eine Mall. Im Lauf einer Stunde wurde sie bestimmt von mindestens hundert Leuten gesehen, aber niemand würde sich an sie erinnern. Sie achtete darauf, nie so viel zu kaufen, dass die Verkäuferin eine nennenswerte Provision bekam, reagierte nie auf Augenkontakt mit irgendwelchen männlichen Wesen, reagierte praktisch überhaupt nicht, abgesehen von einem völlig unpersönlichen, beiläufigen Lächeln. Ebenso gut hätte sie unsichtbar sein können, und indem sie von Geschäft zu Geschäft ging, wurde sie ein wenig von ihrer Nervosität los und konnte ihre Energie umsetzen. Und außerdem fand sie manchmal wirklich gute Schnäppchen. Heute war das eine wirklich hübsche Bluse mit viereckigem Ausschnitt im Sonderangebot. Sie war blau und würde klasse zu den sandfarbenen Slacks und dem Blazer passen, die sie heute Abend tragen wollte. Die Bluse war deshalb reduziert, weil sie am Rücken ein kleines Loch hatte, das man gleich sehen würde, wenn sie den Blazer auszog. Aber das war ideal, weil sie sie ohnehin nur einmal tragen würde.
Mitten am Nachmittag war die kleine Toilette leer genug, dass sie sich dort umziehen und Make-up auflegen konnte, ohne sonderlich Aufmerksamkeit zu erregen. Dank der Dauerwelle brauchte sie ihre Locken nur kurz auszubürsten.
Kurz vor vier hielt sie auf einem Parkplatz vor einem Laden in der Nähe der Wohnanlage an. Sie tippte auf die Knöpfe, um den KI-Simulator zu wecken. »Hey, Buckley.«
»Jetzt geht alles in die Brüche, oder?«
»Nein, Buckley. Ich möchte bloß, dass du die drei wahrscheinlichsten Routen vom Fleet Strike Tower zu dem Apartmentgebäude an der Lucky Avenue Nr. 2256, die auf den Verhaltensmustern der Zielperson basieren, ausarbeitest.«
»Das ist alles, was du kannst? Geht nicht.«
»Was soll das heißen, geht nicht? Buckley, du arbeitest jetzt die Routen aus, okay?«
»Sorry, geht nicht.«
»Buckley, ich bin jetzt wirklich nicht für so etwas in der Stimmung.«
»Um meine Stimmung kümmert sich nie einer. Da stehen wir jetzt, unser Einsatz fliegt uns gleich um die Ohren, und ohne Zweifel werden wir gleich von den Posleen überrannt oder jemand wirft ein Nuke auf uns oder ein K-Dek fällt uns auf den Kopf oder ein Gebäude bricht …«
»Jetzt reicht’s, Buckley.« Sie ballte verärgert die Fäuste. »Warum kannst du keine wahrscheinliche Route für das Subjekt vom Tower zum Apartmentgebäude ausarbeiten?«
»Wer hat denn gesagt, dass ich das nicht kann? Ich habe nie gesagt, dass ich das nicht kann.« Das klang unerträglich selbstgefällig.