Falls sie ihre Entscheidung änderten und sie nicht auf ihren Einsatz schickten, würde das nichts ausmachen. Wenn sie es doch taten, könnte es echt unangenehm werden, nicht vorbereitet zu sein. Somit vor die Wahl gestellt, die Vorbereitungen in Angriff zu nehmen oder sich einen Schwarzweißfilm mit Fred Astaire und Ginger Rogers anzusehen, entschied sie sich für Ersteres und verbrachte damit einige Stunden, bis es an ihrer Tür klopfte und man ihr das Mittagessen brachte.
Sie musterte mit ungläubiger Miene das Maisbrot, das Maispüree sowie den Plastikbehälter mit Milch und den Apfel auf ihrem Tablett.
»Ich kann’s einfach nicht glauben. Ich denke, die sind wirklich sauer auf mich, Buckley.«
»Das kriegst du jetzt erst mit? Früher warst du intelligenter. Eingehende Nachricht von Michael O’Neal senior. Willst du die schlechten Nachrichten jetzt oder nach dem Essen?«
»Abspielen, Buckley.«
Ein dreißig Zentimeter hohes Hologramm ihres Großvaters von den Schultern aufwärts baute sich über dem PDA auf. Sie musste um den Tisch herumgehen, um sein Gesicht zu sehen. Der Buckley war nicht intelligent genug, um die Nachricht auf Gesprächsdistanz vor ihr darzustellen, wie das ein echtes AID getan hätte.
»Cally, du hast einen Termin um fünfzehn Uhr fünfzehn in der Medizinischen Abteilung. Bitte komme ein paar Minuten vorher.«
Na ja, das klang immerhin nicht danach, dass er selbst kommen und sie persönlich hinbringen oder eine Eskorte schicken würde. Immerhin etwas.
Doktor Albert Vitapetroni hatte ein gut trainiertes Pokergesicht und ein mitfühlendes Wesen. Für einen Psychiater war das berufsnotwendig. Als Chef der Psychiatrie der Klinik der Basis Chicago würde er möglicherweise sämtliche menschlichen Angehörigen der Großen Organisation betreuen müssen. Es wäre menschlich unmöglich, ganz zu schweigen in speziellen Fällen sogar unvernünftig, von ihm zu verlangen, seine sämtlichen Patienten auch zu mögen.
Der drahtige Mann mit dem schütteren Haar, der jetzt in seinem Büro auf und ab schritt und dabei mit einem seiner Schreibtischutensilien spielte, war nicht gerade einer seiner Lieblingskollegen. Als Patienten konnte man den Mann eigentlich nicht bezeichnen, denn als Computerspezialist geriet der Mann so gut wie nie ins Schussfeld und benötigte daher Vitapetronis Dienste nicht. Und dieser Dienste wegen war er natürlich auch nicht hier. Vielmehr ging er Vitapetroni im Augenblicklich ziemlich auf die Nerven, indem er über seine Fünfzehn-Uhr-fünfzehn-Patientin schwadronierte.
»Das ist das Problem mit Agenten in ihrem Tätigkeitsbereich. Wenn jemand jahrelang als Killer eingesetzt wird, muss er ja schließlich mit der Zeit zum Psychopathen werden.«
»Mr. Wallace, Sie haben gerade deutlich gemacht, weshalb wir Psychiater es nicht mögen, wenn Laien unseren Jargon benutzen. Miss O’Neal ist ganz sicherlich keine Psychopathin.«
»Soziopathin, Psychopathin, was soll’s? Und solange man sie nicht gesehen hat, kann man das schließlich nicht behaupten? Wenn Sie schon mit einer vorgefassten Meinung an ihre Patienten herangehen, dann finde ich, würden Sie allen einen Dienst erweisen, wenn Sie, na ja, ich will Ihnen ja nicht zu nahe treten, aber wenn Sie …«
»Agent Wallace, ich habe Ihren Vater als Berufskollegen bewundert, aber ich sollte Sie vielleicht daran erinnern, dass man nicht schon dadurch zum Psychiater wird, dass man einen Psychiater zum Vater hat.« Er atmete tief durch und gab sich alle Mühe, seinen professionellen Gleichmut zurückzugewinnen. »Jay, wenn Sie reden müssen oder so, sollten Sie mit meiner Assistentin sprechen, sie gibt Ihnen dann einen Termin. Wenn Ihnen das lieber ist, brauchen wir es nicht einmal einen Termin zu nennen, aber jetzt muss ich mich wirklich um meinen Papierkram kümmern, ehe am Nachmittag wieder die Patienten kommen. Tut mir Leid, wenn ich Sie rausschmeißen muss, aber wenn Sie mich entschuldigen würden …«
»Ja, geht klar. Kein Problem. Ich werde dann eben später kommen.« Der Agent zog sich rückwärts durch die Tür zurück und schloss sie hinter sich.
Der Doktor blickte ihm nach und starrte eine Weile die geschlossene Tür an, oder besser gesagt, starrte durch sie hindurch. Ich habe keinerlei rationale Gründe, die ich benennen könnte, abgesehen von kleinen Lästigkeiten wie das, was gerade jetzt vorgefallen ist, aber ich mag ihn einfach nicht. Ich habe ihn nie bei irgendwelchen unsauberen Dingen erwischt — na ja, jedenfalls nicht öfter als irgendwelche anderen Agenten -, und in seiner Akte ist absolut nichts, auch die Testergebnisse sind in Ordnung, aber ich kann den kleinen Mistkerl einfach nicht leiden. Und dieser ganze Cally O’Neal Schlamassel ist zusätzlicher Stress, den ich in dieser Woche ganz bestimmt nicht gebraucht habe. Verdammt noch mal, ich hob denen schon vor Jahren gesagt, was passieren wird, wenn sie je dahinterkommt, dass dieser Dreckskerl noch am Leben ist. Ich hab denen gesagt, sie sollen das geheim halten und aufpassen, dass sie nie nach Chicago kommt, damit sie nicht einmal zufällig auf ihn stößt. Aber da hört natürlich keiner zu, und jetzt landet der ganze Schlamassel bei mir. Herrgott, ich bin wirklich urlaubsreif.
Um zehn nach drei klopfte es an Vitapetronis Tür, und er rief laut »Herein«. Das passte zu ihr, zu früh zu kommen. Er würde mehr Zeit brauchen, seine Eindrücke niederzuschreiben als sie zu gewinnen. Subjekt war ordentlich, aber leger gekleidet. Ausgebleichte, aber saubere Jeans und olivfarbenes T-Shirt, passend zur persona Cally. Den Kopf trug sie ein wenig schief. Wahrscheinlich unbehaglich mit einer Haarfarbe, die nicht zur augenblicklichen Rolle passt. Keine Kontaktlinsen, Augen Naturfarbe.
»Cally, wie geht es Ihnen? Kommen Sie rein und nehmen Sie Platz.« Als er nach ihrer Hand griff, stellte er fest, dass sie keinen Nagellack trug und ihre Nägel stumpf waren, als ob sie erst vor kurzem den Nagellack entfernt hätte. Ebenfalls zur persona Cally passend. Gut.
»Tag, Doc.« Sie lächelte strahlend, aber als sie in einem seiner bequemen, wenn auch billigen Polstersessel saß, konnte er erkennen, dass sie die Arme dicht am Körper hielt, dass ihr Körper leicht abgeknickt war und sie ihm auch nicht gerade in die Augen sah. Ihre Hände waren nicht ineinander verschränkt, aber sie lagen beide in ihrem Schoß, und die Fingerspitzen berührten einander.
Er musterte sie mit hochgeschobenen Augenbrauen und wartete, während er in seinem Schreibtischsessel Platz nahm. Der Schreibtisch stand an der Wand, sodass er keine Barriere zwischen ihm und dem Patienten bildete. Er wartete, aber sie war lang genug im Geschäft, um das Spiel zu beherrschen, und schließlich brachten die denen bei, nicht rumzuplappern. Sie tat nichts, um das Schweigen zu beenden.
»Das war keine rhetorische Frage. Ich habe das so gemeint. Wie geht es Ihnen?«
»Mir ist’s schon besser gegangen. Die Arbeit war in letzter Zeit ziemlich anstrengend.« Ihr Tonfall klang immer noch unecht fröhlich.
»Aber Ihr augenblickliches Problem ist ja nicht auf Ihre Arbeit zurückzuführen, oder?« Er machte sich ein paar Notizen auf seinem zweiten PDA, dem einzigen, der im Augenblick im Raum war, was insofern ungewöhnlich war, als er über keinerlei KI verfügte. Er vertraute den Dingern nicht. In seinem Beruf hatte er zu viele wirklich verkorkste Programmierer kennen gelernt, um ihren Imitationen des menschlichen Bewusstseins vertrauliche Patientendaten anzuvertrauen. Das hatte nichts damit zu tun, dass er schon einmal versucht hatte, einen Buckley zu behandeln. Es hatte ein schlimmes Ende genommen.
»Oh, ich denke, das ist Ansichtssache, finden Sie nicht?« Ihre Stimme klang jetzt leicht gereizt.
»Na ja, man hat mir gesagt, Sie hätten einen Bane Sidhe Agenten getötet. Während Sie eigentlich im Urlaub sein sollten. Das ist, wie Sie ganz richtig erklärt haben, deren Ansicht. Ich würde gerne die Ihre hören«, sagte er.