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Eine silberne Glocke ertönte. Verblüfft erhob sich Dalamar aus seinem Stuhl. Die Angst vor seinen Phantasiebildern wurde von realer Angst abgelöst. Und mit der Angst vor etwas Konkretem und Greifbarem spannte sich Dalamars Körper an. Sein Blut strömte kalt durch seine Adern, und die dunklen Schatten verschwanden aus seinem Denken. Er hatte sich in der Gewalt.

Die silberne Glocke kündigte einen Eindringling an. Jemand hatte sich durch den Eichenwald von Shoikan gekämpft und stand nun am Eingang zum Turm. Normalerweise hätte sich Dalamar mit einem Zauber unverzüglich selbst auf den Weg gemacht, um dem Eindringling selbst gegenüberzutreten. Aber jetzt wagte er nicht, das Portal zu verlassen. Er warf einen flüchtigen Blick darauf. Nein, es war keine Einbildung gewesen. Die Augen der Drachenköpfe leuchteten. Er glaubte sogar zu sehen, daß sich die Leere im Innern bewegte und verschob, als ob eine Welle über ihre Oberfläche geglitten wäre.

Nein, er wagte nicht zu gehen. Er mußte den Wächtern vertrauen. Er ging zur Tür, neigte seinen Kopf und horchte. Er glaubte schwache Geräusche von unten zu hören – einen gedämpften Schrei und das Aufprallen von Stahl. Dann vernahm er nur noch Schweigen. Er wartete und hielt den Atem an, doch er hörte nur das Pochen seines eigenen Herzen.

Weiter nichts.

Dalamar seufzte. Die Wächter hatten die Angelegenheit wohl schon erledigt. Er verließ die Tür und ging durch das Laboratorium, um aus dem Fenster zu schauen, aber er konnte nichts erkennen. Der Rauch war dicht wie Nebel. Er hörte das entfernte Grollen eines Donners. Vielleicht war es auch eine Explosion. Wer war dort unten gewesen, fragte er sich. Vielleicht ein Drakonier? Erpicht auf weiteres Morden und weitere Beute. Einer von ihnen könnte es geschafft haben, durch...

Es spielt doch keine Rolle, sagte er sich kalt. Wenn alles vorbei sein würde, wollte er nach unten gehen und die Leiche untersuchen...

»Dalamar!«

Dalamars Herz schlug höher. Angst und Hoffnung jagten beim Klang dieser Stimme durch seinen Körper.

»Vorsicht, Vorsicht, mein Freund«, flüsterte er sich zu. »Sie hat ihren Bruder verraten. Sie hat dich verraten. Du kannst ihr nicht vertrauen.«

Dennoch ertappte er sich dabei, daß seine Hände zitterten, als er langsam durch das Laboratorium zur Tür schritt.

»Dalamar!« Wieder ihre Stimme. Sie bebte vor Schmerz und Angst. Etwas schlug gegen die Tür, und er hörte das Geräusch eines Körpers, der an ihr nach unten rutschte. »Dalamar«, rief sie noch einmal schwach.

Dalamars Hand lag auf dem Griff. Hinter ihm leuchteten die Augen der Drachen rot, weiß, blau, grün, schwarz.

»Dalamar«, flüsterte Kitiara matt. »Ich... ich bin gekommen... um dir zu helfen.«

Langsam öffnete Dalamar die Tür des Laboratoriums.

Kitiara lag vor seinen Füßen auf dem Boden. Bei ihrem Anblick hielt Dalamar den Atem an. Falls sie vorher eine Rüstung getragen hatte, so war sie von nichtmenschlichen Händen von ihrem Körper gerissen worden. Er konnte die Male der Nägel auf ihrem Fleisch sehen. Das schwarze, enge Gewand, das sie unter ihrer Rüstung trug, war in Fetzen gerissen und entblößte ihre gebräunte Haut und ihren weißen Busen. Blut sickerte aus einer entsetzlichen Wunde an einem Bein. Auch ihre Lederstiefel waren zerfetzt. Dennoch sah sie zu ihm mit klaren Augen hoch, mit Augen, die ohne Angst waren. In ihrer Hand hielt sie das Nachtjuwel, jenen Zauber von Raistlin, der ihr im Eichenwald Schutz bot.

»Ich war gerade stark genug«, flüsterte sie, und ihre Lippen teilten sich zu jenem verschmitzten Lächeln, das Dalamars Blut in Wallung brachte. Sie streckte ihm ihre Arme entgegen. »Ich bin zu dir gekommen. Hilf mir beim Aufstehen.«

Dalamar bückte sich und zog Kitiara auf ihre Füße. Sie sackte gegen ihn. Er spürte, wie ihr Körper zitterte, und schüttelte den Kopf, weil er wußte, welches Gift in ihrem Blut wirkte. Er legte seinen Arm um sie und half ihr in das Laboratorium. Dann schloß er die Tür hinter sich.

Ihr Gewicht wurde schwerer, und ihre Augen verdrehten sich. »O Dalamar«, murmelte sie, und er sah, daß sie gleich ohnmächtig werden würde. Er legte seine Arme um sie. Sie lehnte ihren Kopf gegen seine Brust und stieß dankbar einen Seufzer der Erleichterung aus.

Er konnte den Duft ihres Haares riechen – diesen seltsamen Duft, eine Mischung aus Parfüm und Stahl. Ihr Körper bebte in seinen Armen. Er verstärkte seinen Griff um sie. Sie schlug ihre Augen auf und sah zu ihm hoch. »Ich fühle mich jetzt besser«, wisperte sie. Ihre Hände glitten nach unten.

Zu spät sah Dalamar, wie ihre braunen Augen aufblitzten. Zu spät sah er, wie sich das verschmitzte Lächeln verzerrte. Zu spät bemerkte er, daß sich ihre Hand ruckartig bewegte, und dann spürte er nur noch stechenden Schmerz, als sie ihr Messer in seinen Körper stieß.

»Tatsächlich, wir haben es geschafft«, schrie Caramon und starrte von dem zerstörten Hof der fliegenden Zitadelle, die über die Kronen des verruchten Eichenwaldes von Shoikan glitt, nach unten.

»Ja, zumindest bis hierher«, murmelte Tanis. Selbst von diesem Aussichtspunkt aus konnte er die kalten Wogen von Haß und Blutrünstigkeit spüren, die emporstiegen, um sie zu ergreifen, als ob die Wächter sie sogar aus der Zitadelle nach unten ziehen wollten. Bebend zwang Tanis seinen Blick dorthin, wo die Spitze des Turmes der Erzmagier aufragte. »Wenn wir dicht genug herankommen«, rief er Caramon über das Rascheln des Windes in seinen Ohren zu, »können wir uns auf den Weg dort hinunterfallen lassen, der sich kreisförmig um die Spitze zieht.«

»Auf den Gang des Todes«, gab Caramon grimmig zurück.

»Was?«

»Das ist der Gang des Todes!« Caramon kam näher, wobei er jeden Schritt genau überlegte, während sich die dunklen Bäume unter ihnen wie Wellen eines schwarzen Ozeans wiegten. »Dort hat der böse Magier gestanden, als er den Fluch über den Turm verhängte. Das hat Raistlin mir jedenfalls erzählt. Von dort ist er hinuntergesprungen.«

»Welch netter, heiterer Ort«, murmelte Tanis in seinen Bart und starrte grimmig auf den Gang. Rauch kräuselte sich um sie und verschleierte den Blick auf die Bäume. Der Halb-Elf versuchte nicht daran zu denken, was in der Stadt geschah. Er hatte bereits einen Blick auf den brennenden Paladin-Tempel erhascht.

»Dir ist doch hoffentlich auch klar«, rief er, als er Caramon erreicht hatte und sie nebeneinander am Rande des Hofes der Zitadelle standen, »daß die Chance besteht, daß Tolpan direkt in dieses Ding hineinrauscht!«

»Wir sind trotz allem bis hierher gekommen«, lächelte Caramon grimmig, »weil die Götter mit uns sind.«

Tanis blinzelte und fragte sich, ob er eben richtig gehört hatte. »Das klingt überhaupt nicht nach dem alten fröhlichen Caramon«, sagte er grinsend.

»Der alte Caramon ist tot, Tanis«, erwiderte Caramon schlicht und einfach. Seine Augen waren gebannt auf den näherrückenden Turm gerichtet.

Tanis’ Grinsen veränderte sich. Er seufzte. »Tut mir leid«, war das einzige, was ihm einfiel. Unbeholfen legte er seine Hand auf Caramons Schulter.

Caramon sah ihn mit hellen, klaren Augen an. »Nein, Tanis«, sagte er. »Als Par-Salian mich in die Vergangenheit zurückschickte, sagte er mir, daß ich zurückgehen müsse, um ›eine Seele zu retten. Nicht mehr. Nicht weniger.‹« Caramon lächelte traurig. »Ich dachte immer, er meinte Raistlins Seele. Aber inzwischen weiß ich, daß ich ihn falsch verstanden habe. Er meinte meine eigene.« Der Körper des großen Mannes spannte sich. »Komm«, sagte er und wechselte abrupt das Thema. »Wir sind dicht genug, um abzuspringen.«

Unter ihnen tauchte ein Balkon auf, der den obersten Teil des Turms umrandete. Durch den aufwirbelnden Rauch war er nur schwach zu erkennen. Und als Tanis nach unten sah, zog sich sein Magen zusammen. Obgleich er wußte, daß das unmöglich war, schien es ihm, als ob der Turm unter ihnen schlingerte, während er selbst vollkommen still dastand. Er hatte so gigantisch ausgesehen, als sie sich ihm genähert hatten. Jetzt hätte er genausogut planen können, von einem Vallenholzbaum auf das Dach eines Spielzeugschlosses zu springen.