Aber Tanis hörte ihn nicht. Er steckte sein Schwert wieder in die Scheide zurück, ging durch den Raum, trat unachtsam auf Glasscherben und stieß einen silbernen Kerzenleuchter beiseite, der vor seine Füße gerollt war.
Kitiara lag auf dem Bauch. Ihre Wange war gegen den blutigen Boden gedrückt, und ihr dunkles Haar fiel über ihre Augen. Der Dolchwurf hatte offenbar ihre letzte Energie verbraucht. Als Tanis sie erreichte, war er überzeugt, daß sie tot sein müßte. Seine Gedanken und Gefühle waren in Aufruhr.
Aber der unbeugsame Wille, der einen Bruder in die Dunkelheit und den anderen ins Licht geführt hatte, brannte immer noch in Kitiara.
Sie hörte Schritte... ihr Feind...
Ihre Hand griff schwach nach dem Schwert. Sie hob ihren Kopf und sah mit trüben Augen auf.
»Tanis?« Sie starrte den Halb-Elfen verblüfft und verwirrt an. Wo war sie? In Treibgut? Waren sie dort wieder zusammen? Natürlich! Er war zu ihr zurückgekehrt! Lächelnd streckte sie ihm ihre Hand entgegen.
Tanis hielt den Atem an, und sein Magen drehte sich um. Als sie sich bewegte, sah er, daß in ihrer Brust ein geschwärztes Loch klaffte. Ihr Fleisch war weggebrannt, und dahinter waren die weißen Knochen sichtbar. Es war ein greulicher Anblick, und Tanis wurde von Übelkeit ergriffen und von einer Welle der Erinnerungen überwältigt, so daß er seinen Kopf abwenden mußte.
»Tanis!« rief sie mit matter Stimme. »Komm zu mir.«
Sein Herz war voller Mitleid. Daher kniete sich Tanis zu ihr und hob sie in seine Arme. Sie sah zu ihm auf... und sah in seinen Augen ihren Tod. Sie zitterte vor Angst. Mühselig rang sie darum, sich aufzurichten.
Aber die Anstrengung war zu groß. Sie brach zusammen.
»Ich bin... verletzt«, flüsterte sie zornig. »Wie... schlimm?« Sie hob ihre Hand und wollte die Wunde berühren.
Tanis riß seinen Umhang von seinen Schultern und hüllte Kitiaras aufgerissenen Körper damit ein. »Ruh dich aus, Kit«, sagte er sanft. »Du wirst bald wieder in Ordnung sein.«
»Du bist ein verdammter Lügner!« schrie sie. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten und wiederholten – wenn sie das nur gewußt hätte! – die Worte des sterbenden Elistan. »Er hat mich getötet! Dieser elende Elf!« Sie lächelte. Es war ein gräßliches Lächeln. Tanis erschauerte. »Aber ich habe es ihm heimgezahlt! Er kann Raistlin jetzt nicht mehr helfen. Die Dunkle Königin wird ihn umbringen. Sie wird alle umbringen!«
Stöhnend krümmte sie sich im Todeskampf und klammerte sich an Tanis. Er hielt sie fest. Als der Schmerz nachließ, sah sie zu ihm auf. »Du Schwächling«, flüsterte sie in einem Ton, der teils bitterer Hohn, teils bitteres Bedauern war, »wir hätten die Welt haben können, du und ich.«
»Ich habe die Welt, Kitiara«, entgegnete Tanis leise, und sein Herz brach vor Abscheu und Kummer.
Wütend schüttelte sie den Kopf und schien noch etwas sagen zu wollen. Plötzlich weiteten sich ihre Augen, und ihr Blick blieb gebannt auf etwas am anderen Ende des Raumes hängen.
»Nein!« schrie sie in einer Angst, die keine Folter oder kein Leiden jemals aus ihr herausgezogen hatte. »Nein!« Sie schreckte zurück, barg sich an Tanis’ Schulter und flüsterte mit einer verzweifelten, abgewürgten Stimme: »Laß nicht zu, daß er mich nimmt! Tanis, nein! Halte ihn fern! Ich habe dich immer geliebt, Halb-Elf! Immer... dich... geliebt...«
Ihre Stimme erstarb zu einem keuchenden Flüstern.
Tanis sah beunruhigt auf. Aber die Türschwelle war leer. Dort war niemand. Hatte sie Dalamar gemeint? »Wer? Kitiara! Ich verstehe dich nicht...«
Aber sie hörte ihn nicht mehr. Ihre Ohren waren für immer für sterbliche Stimmen taub. Die einzige Stimme, die sie nun hören mußte, war eine, die sie für immer hören würde, durch alle Ewigkeiten.
Tanis spürte ihren Körper in seinen Armen schlaff werden. Er strich ihr dunkles, lockiges Haar zurück und suchte in ihrem Gesicht ein Zeichen, daß der Tod ihrer Seele Frieden gebracht hatte. Aber in ihrem Gesicht stand noch immer das Entsetzen – ihre braunen Augen waren zu einem verängstigten Blick erstarrt und das verschmitzte, bezaubernde Lächeln zu einer Grimasse verzerrt.
Tanis sah zu Caramon hoch. Dessen Gesicht war blaß und ernst, und er schüttelte den Kopf. Langsam legte Tanis Kitiaras Körper zurück auf den Boden. Er beugte sich vor und wollte die kalte Stirn küssen, doch er konnte es nicht. Der gebrochene Blick der Toten war voller Entsetzen und flößte ihm Grauen ein.
Tanis zog seinen Umhang über Kitiaras Kopf und blieb einen Moment bei ihr knien. Dunkelheit umgab ihn. Und dann hörte er Caramons Schritte, und er fühlte eine Hand auf seinem Arm. »Tanis...«
»Es ist in Ordnung«, sagte der Halb-Elf mürrisch und erhob sich. Aber in seinem Gedächtnis hallte immer noch ihre letzte Bitte nach – »Halte ihn fern!«
7
»Ich bin froh, daß du bei mir bist, Tanis«, sagte Caramon.
Er stand vor dem Portal und studierte es aufmerksam. Keine Bewegung und keine Welle innerhalb der Leere entging ihm. Neben ihm saß Dalamar mit Kissen abgestützt auf seinem Stuhl. Sein Gesicht war blaß und abgespannt vor Schmerz, und sein Arm ruhte in einer provisorischen Schlinge. Tanis schritt unruhig im Zimmer auf und ab. Die Drachenköpfe leuchteten jetzt so hell, daß es die Augen schmerzte, hinsehen zu müssen.
»Caramon«, begann er, »bitte...«
Caramon sah zu ihm hinüber. Doch seine Miene blieb unverändert ernst und gelassen.
Tanis schwieg wieder. »In Ordnung. Aber wie willst du da überhaupt hineinkommen?« fragte er dann.
Caramon lächelte. Er wußte, was Tanis eigentlich hatte sagen wollen, und er war ihm dankbar, daß er es nicht gesagt hatte.
Mit verbittertem Blick zeigte Tanis auf die Öffnung des Portals. »Du hast mir zuvor erzählt, daß Raistlin dafür jahrelang studieren und dieser Fistandantilus werden und Crysania verführen mußte, ihn zu begleiten. Und selbst dann ist es ihm gerade eben gelungen, durch dieses Portal zu gelangen!« Tanis’ Blick glitt zu Dalamar. »Kannst du auch das Portal betreten, Dunkelelf?«
Dalamar schüttelte den Kopf. »Nein. Wie du ja erkannt hast, ist eine Person mit großer Macht erforderlich, um diese entsetzliche Schwelle zu überschreiten. Ich verfüge nicht über soviel Macht, vielleicht wird das auch nie der Fall sein. Aber mach nicht so ein finsteres Gesicht, Halb-Elf. Wir verschwenden unsere Zeit nicht. Ich bin überzeugt, daß Caramon dies alles nicht auf sich nehmen würde, wenn er nicht eine Ahnung hätte, wie er das Portal betreten kann.« Dalamar sah den großen Krieger gespannt an. »Denn betreten muß er es, sonst sind wir alle dem Untergang geweiht.«
»Wenn Raistlin in der Hölle gegen die Dunkle Königin und ihre Lakaien kämpft«, sagte Caramon mit gleichmäßiger Stimme ohne besondere Betonung, »wird er sich völlig und ausschließlich auf sie konzentrieren müssen. Ist das richtig, Dalamar?«
»Mit höchster Wahrscheinlichkeit.« Der Dunkelelf zitterte und zog mit seiner unversehrten Hand die schwarzen Roben enger um sich. »Ein Atemzug, ein Blinzeln, ein Zucken, und sie werden ihn stückchenweise zerreißen und verschlingen.«
Caramon nickte.
Wie kann er bloß so ruhig sein, fragte sich Tanis. Und eine Stimme in ihm erklärte ihm, das sei die Ruhe eines Mannes, der sein Schicksal erkannt habe und es akzeptiere.
»In Astinus’ Buch«, fuhr Caramon fort, »steht geschrieben, daß Raistlin vor der Schlacht mit der Königin wohlweislich das Portal öffnete, um notfalls seine Flucht sicherzustellen, da er seine Magie völlig auf den Kampf konzentrieren mußte. Folglich fand er das Portal bei seiner Rückkehr bereit, so daß er wieder in diese Welt zurückkommen konnte.«
»Zweifellos wußte er auch, daß er selbst zu geschwächt sein würde, um es zu öffnen«, murmelte Dalamar. »Er müßte dafür im Vollbesitz seiner Kräfte sein. Ja, du hast recht. Er wird es bald öffnen. Und wenn das geschieht, kann auch jemand anderes mit Kraft und Mut, wie es für das Überqueren der Schwelle erforderlich ist, das Portal betreten.«