»Caramon muß ihn also töten – seinen Bruder?«
»Ja.«
»Und auch er muß sterben«, murmelte Tanis.
»Bete dafür, daß er stirbt!« Dalamar leckte über seine Lippen. Der Schmerz machte ihn schwindelig. Ihm wurde übel. »Denn er kann auch nicht durch das Portal zurückkehren. Und obwohl der Tod durch die Hände der Dunklen Königin sehr langsam und quälend sein kann, ist er, glaub mir das, Halb-Elf, dem Leben vorzuziehen!«
»Er wußte das...«
»Ja, er wußte das. Aber die Welt wird gerettet werden, Halb-Elf«, bemerkte Dalamar zynisch. Er sank auf seinen Stuhl zurück und starrte weiter in das Portal. Seine Hand zerknitterte und glättete abwechselnd die Falten seiner schwarzen, runenbestickten Roben.
»Nein, nicht die Welt, eine Seele«, wollte Tanis bitter erwidern. Im selben Moment hörte er hinter sich die Tür des Laboratoriums knarren.
Dalamar wandte seinen Blick sofort vom Portal ab. Seine Augen funkelten, und seine Hand glitt zu einer Zauberrolle, die er in seinen Gürtel gesteckt hatte.
»Niemand kann eintreten«, sagte er leise zu Tanis, der sich bei dem Geräusch umgedreht hatte. »Die Wächter...«
»Können ihn nicht aufhalten«, beendete Tanis den Satz. Sein Blick war auf die Tür mit einem Ausdruck der Angst geheftet, der einen Augenblick die erstarrte Angst auf Kitiaras totem Gesicht widerspiegelte.
Dalamar lächelte bitter und sank wieder auf seinen Stuhl zurück. Es bestand keine Notwendigkeit, sich umzuschauen. Die Eiseskälte des Todes strömte wie ein übelriechender Nebel in das Zimmer.
»Tritt ein, Lord Soth«, sagte Dalamar. »Ich habe dich erwartet.«
8
Caramon war von dem strahlenden Licht geblendet, das sogar durch seine geschlossenen Augenlider brannte. Dann wurde er von Dunkelheit umgeben, und als er seine Augen wieder aufschlug, konnte er einen Augenblick nichts sehen und geriet in Panik. Ihm fiel plötzlich jene Zeit wieder ein, als er blind und verloren im Turm der Erzmagier gewesen war.
Aber allmählich hob sich auch die Dunkelheit, und seine Augen gewöhnten sich an das unheimliche Licht in seiner Umgebung. Es brannte in einem seltsamen rosafarbenen Glimmern, als ob die Sonne gerade untergegangen wäre, hatte Tolpan ihm erzählt. Und die Landschaft war genauso, wie der Kender sie beschrieben hatte – ein weites leeres Gebiet unter einem weiten leeren Himmel. Himmel und Land hatten die gleiche Farbe, in welche Richtung er auch schaute.
Außer in einer Richtung. Als Caramon seinen Kopf umwandte, sah er das Portal direkt hinter sich. Es war der einzige Farbklecks in dieser Ödnis. Die von den fünf Drachenköpfen eingerahmte, ovale Tür wirkte klein und weit entfernt, obwohl er wußte, daß er noch in ihrer Nähe war. Es kam Caramon vor, als wäre sie nichts weiter als ein Bild, das an einer Wand hängt. Zwar konnte er Tanis und Dalamar ziemlich deutlich erkennen, aber sie bewegten sich nicht. Sie hätten ebensogut Gemälde sein können, eingefangen in einer erstarrten Bewegung, gezwungen, ihre Ewigkeit unbeweglich ins Nichts starrend zu verbringen.
Entschlossen drehte er ihnen den Rücken zu. Er fragte sich, ob sie ihn wohl auch sehen konnten. Caramon zog sein Schwert aus der Scheide, setzte seine Füße fest auf den Boden, der sich ständig bewegte, und wartete auf seinen Zwillingsbruder.
Caramon hatte keinen Zweifel, nicht den kleinsten Zweifel, daß eine Schlacht zwischen ihm und Raistlin zu seinem eigenen Tod führen würde. Auch wenn Raistlin geschwächt war, würde seine Magie immer noch mächtig sein. Und Caramon kannte seinen Bruder genug, um zu wissen, daß Raistlin es niemals zulassen würde – solange es in seiner Macht stand —, völlig verwundbar zu werden. Es würde immer noch ein Zauber übrigbleiben oder – zumindest – der silberne Dolch an seinem Handgelenk.
Aber auch wenn ich sterbe, wird mein Ziel erreicht sein, dachte Caramon ruhig. Ich bin stark und gesund, und lediglich ein Schwertstoß durch seinen dünnen, zerbrechlichen Körper ist erforderlich.
Und er wußte auch, daß ihm das gelingen mußte, bevor die Magie seines Bruders ihn erreichen konnte, so wie er ihn einst vor langer Zeit im Turm der Erzmagier vernichtet hatte...
Tränen brannten in seinen Augen und liefen über seinen Hals. Er schluckte sie hinunter und zwang sich, an etwas anderes zu denken, um sich von seiner Angst und seinem Kummer abzulenken...
Crysania.
Arme Frau. Caramon seufzte. Er hoffte um ihretwillen, daß sie schnell gestorben war... und nicht erfahren hatte...
Caramon blinzelte, zuckte zusammen und starrte nach vorne. Was war geschehen? Wo zuvor am rosafarbenen glühenden Horizont nichts gewesen war – erkannte er jetzt einen Gegenstand. Er hob sich schwarz und deutlich gegen den rosafarbenen Himmel ab und wirkte flach, als wäre er aus Papier ausgeschnitten worden. Wieder fielen ihm Tolpans Worte ein. Aber er erkannte den Gegenstand wieder – es war ein Holzpfahl. Die Art... die Art, wie man sie in den alten Zeiten für Hexenverbrennungen verwendet hatte.
Erinnerungen stiegen in ihm hoch. Er konnte Raistlin an einem Pfahl gefesselt sehen, konnte die Holzhaufen sehen, die um seinen Bruder aufgeschichtet waren. Er sah, wie er versuchte, sich zu befreien, und trotzig diejenigen ankreischte, die er vor ihrer eigenen Torheit zu retten versucht hatte, als er einen Scharlatankleriker entlarvt hatte. Aber sie waren überzeugt gewesen, daß er ein Hexer wäre.
»Wir kamen gerade rechtzeitig, Sturm und ich«, murmelte Caramon. Auch das Schwert des Ritters fiel ihm wieder ein, wie es in der Sonne geblitzt hatte. Sein funkelnder Glanz allein vertrieb damals die abergläubischen Bauern.
Als er den Pfahl genauer betrachtete, der sich auf ihn zu zu bewegen schien, sah Caramon an dessen Fuße eine Gestalt liegen. War das Raistlin? Der Pfahl glitt näher und näher – oder schritt er selbst auf ihn zu? Caramon wandte seinen Kopf. Das Portal war weiter entfernt, aber er konnte es immer noch sehen.
Voller Sorge und Angst, daß er weggetrieben würde, zwang er sich zum Stehenbleiben, und unverzüglich konnte er einhalten. Dann vernahm er wieder die Stimme des Kenders. »Wenn du irgendwohin gehen willst, brauchst du nur daran zu denken. Wenn du etwas haben willst, brauchst du nur daran zu denken, aber nur vorsichtig, denn die Hölle kann das, was du siehst, verzerren und entstellen.«
Caramon schaute auf den Holzpfahl und stellte sich vor, dort zu sein. Und prompt stand er direkt neben ihm. Er warf einen kurzen Blick zurück auf das Portal. Es schien wie ein Miniaturgemälde zwischen Himmel und Boden zu hängen. Zufrieden, daß er jede Sekunde zurückkehren konnte, eilte Caramon auf die Gestalt zu, die unter dem Pfahl lag.
Zuerst hatte er gedacht, sie wäre in schwarze Roben gekleidet, und sein Herz machte einen Ruck. Aber jetzt erkannte er, daß sie sich nur wie eine schwarze Silhouette gegen den glühenden Boden abgehoben hatte. Die Roben waren weiß. Und dann wußte er es.
Natürlich, er hatte ja an sie gedacht...
»Crysania«, flüsterte er.
Sie öffnete ihre Augen und wandte ihren Kopf in die Richtung, aus der er gesprochen hatte, aber ihre Augen blieben nicht an ihm haften. Sie starrten an ihm vorbei, und er sah, daß sie blind war.
»Raistlin?« flüsterte sie mit einer Stimme, die von soviel Hoffnung und Sehnsucht erfüllt war, daß Caramon alles, sogar sein Leben, gegeben hätte, um diese Hoffnung bestätigen zu können.
Mit einem Kopfschütteln kniete er sich neben sie und nahm ihre Hand. »Ich bin es, Caramon, Crysania.«
Sie wandte ihre blinden Augen zu ihm hin und drückte schwach seine Hand. Verwirrt starrte sie in seine Richtung. »Caramon? Wo sind wir?«
»Ich bin auch durch das Portal gegangen, Crysania«, antwortete er.
Sie seufzte und schloß ihre Augen. »Du bist also in der Hölle, zusammen mit uns...«
»Ja.«
»Ich war eine Närrin, Caramon«, murmelte sie, »aber ich habe für meine Torheit bezahlt. Ich wünschte... ich wünschte, ich wüßte... Ist... jemand... zu Schaden gekommen... außer mir? Und er?« Das letzte Wort war kaum hörbar.
»Crysania...« Caramon wußte nicht, was er antworten sollte.