Aber Crysania unterbrach ihn. Sie hatte die Trauer in seiner Stimme wahrgenommen. Sie schloß die Augen, und Tränen liefen über ihre Wangen. Mühsam drückte sie seine Hand an ihre Lippen. »Natürlich. Ich verstehe!« flüsterte sie. »Das ist der Grund, warum du gekommen bist. Es tut mir leid, Caramon. Es tut mir so leid!«
Sie begann zu weinen. Caramon schloß sie eng in seine Arme und hielt sie fest. Besänftigend wiegte er sie wie ein Kind. Und auf einmal erkannte er, daß sie im Sterben lag. Er spürte das Leben aus ihrem Körper weichen, während er sie noch in seinen Armen hielt. Aber was sie verletzt hatte, welche Wunden sie eigentlich erlitten hatte, konnte er sich nicht vorstellen, denn an ihrer Haut war kein Mal.
»Es gibt nichts, was dir leid tun sollte«, sagte er und strich ihr dichtes, schwarzes, glänzendes Haar zurück, das über ihr leichenblasses Gesicht gefallen war. »Du hast ihn geliebt. Wenn das eine Torheit ist, dann ist es auch meine, und ich zahle freudig dafür.«
»Wenn das nur stimmen würde!« Sie stöhnte. »Aber es waren mein Stolz und mein Ehrgeiz, die mich hierher führten.«
»War es das, Crysania?« fragte Caramon. »Falls das stimmt, warum hat Paladin dann deine Gebete erhört und das Portal für dich geöffnet, während er dem Königspriester dieselbe Forderung abgelehnt hat? Warum hat er dich mit dieser Gabe gesegnet, wenn nicht aus dem Grund, daß er erkannte, was wirklich in deinem Herzen ist?«
»Paladin hat sein Gesicht von mir abgewendet!« schrie sie. Sie nahm das Medaillon und versuchte, es von ihrem Hals zu reißen. Aber sie war zu schwach. Ihre Hand schloß sich um das kleine Oval und blieb dort. Und dabei legte sich ein Ausdruck von Frieden über ihr Gesicht. »Nein«, sagte sie leise zu sich, »er ist hier. Er hält mich. Ich sehe ihn so deutlich...«
Caramon stand auf und hob sie in seine Arme. Ihr Kopf sank gegen seine Schulter, und sie entspannte sich unter seinem festen Griff. »Wir gehen zum Portal zurück«, erklärte er ihr.
Sie antwortete nicht, aber sie lächelte. Hatte sie ihn gehört, oder lauschte sie einer anderen Stimme?
Er sah das Portal an, das wie ein vielfarbener Juwel in der Feme leuchtete, und stellte sich vor, ganz in der Nähe zu stehen, und schnell bewegte er sich zu ihm hin.
Doch plötzlich splitterte und zerbarst die Luft um ihn herum. Blitze zuckten vom Himmel, Blitze, wie er sie noch nie gesehen hatte. Tausende purpurfarbene, zischende Zweige schlugen in den Boden und schlossen ihn ein, wie in ein Gefängnis, dessen Gitter den Tod bedeuteten. Vom Schock gelähmt, konnte er sich nicht rühren. Selbst als die Blitze verschwanden, wartete er noch und krümmte sich zusammen. Er glaubte, für immer von dem Dröhnen des Donners taub zu sein.
Aber dann blieb nur noch Stille zurück, und darin weit entfernt ein qualvoller durchdringender Aufschrei.
Crysania schlug die Augen auf. »Raistlin«, flüsterte sie. Ihre Hand verstärkte den Griff um das Medaillon.
»Ja«, murmelte Caramon.
Tränen strömten über ihre Wangen. Sie schloß die Augen und klammerte sich an Caramon. Er bewegte sich weiter auf das Portal zu, jetzt aber viel langsamer. Ihm war etwas Beunruhigendes, etwas Besorgniserregendes eingefallen. Crysania lag im Sterben, das stand fest. Ihr Pulsschlag war schwach und flatterte unter seinen Fingern wie das Herz eines jungen Vogels. Aber sie war nicht tot, noch nicht. Wenn er sie durch das Portal bringen würde, könnte sie vielleicht überleben.
Aber wie sollte er sie durch das Portal bringen, ohne daß er selbst gehen mußte?
Mit Crysania in den Armen kam Caramon dem Portal immer näher. Oder es kam ihm näher, denn es schien ihm entgegenzuspringen, während er voranschritt. Es wurde größer, und die Köpfe des Drachen starrten ihn mit ihren funkelnden Augen an. Ihre Mäuler waren geöffnet, um ihn zu packen und zu verschlingen.
Immer noch konnte er durch das Portal sehen. Er konnte Tanis und Dalamar sehen – der eine stand, und der andere saß da, und keiner bewegte sich, als wären sie in der Zeit eingefroren. Konnten sie ihm helfen? Konnten sie Crysania holen?
»Tanis!« rief er. »Dalamar!«
Aber falls sie ihn rufen hörten, so reagierten sie nicht darauf.
Behutsam legte Caramon Crysania vor dem Portal auf den unruhigen Boden. Er erkannte jetzt, daß es keine Hoffnung gab. Er hatte es die ganze Zeit über gewußt. Zwar würde er sie zurückbringen können, und sie würde leben. Aber das bedeutete, daß auch Raistlin leben und entkommen würde, daß er die Königin hinter sich her locken und die Welt und seine Bewohner zur Zerstörung verurteilen würde.
Er ließ sich auf den merkwürdigen Boden sinken und setzte sich neben Crysania und nahm ihre Hand. Irgendwie war er froh, daß sie hier bei ihm war. Er fühlte sich nicht so allein. Die Berührung ihrer Hand war tröstend. Wenn er sie nur retten könnte...
»Was hast du mit Raistlin vor, Caramon?« fragte Crysania nach einem Moment des Schweigens leise.
»Ich werde ihn daran hindern, die Hölle zu verlassen«, sagte Caramon. Seine Stimme war gleichmäßig und ausdruckslos.
Sie nickte verstehend, und ihre Hand hielt seine fest. Ihre blinden Augen starrten zu ihm hoch.
»Er wird dich töten, nicht wahr?«
»Ja«, antwortete Caramon sachlich. »Aber erst wird er zu Fall kommen.«
Schmerzen verzerrten Crysanias Gesicht. Sie ergriff Caramons Hand. »Ich warte auf dich!« Sie würgte, und ihre Stimme wurde schwächer. »Ich warte auf dich. Wenn es vorbei ist, wirst du mein Führer sein, weil ich nichts sehen kann. Du wirst mich zu Paladin bringen. Du wirst mich aus der Dunkelheit führen.«
Ihre Augen schlossen sich. Ihr Kopf sank langsam zurück, als ob sie auf einem Kissen ruhen würde. Aber ihre Hand hielt immer noch Caramons Finger umklammert. Ihre Brust hob und senkte sich mit jedem Atemzug. Er legte seine Finger an ihren Hals und spürte ihr Leben pulsieren.
Er war darauf vorbereitet gewesen, sich zum Tode zu verurteilen, er war darauf vorbereitet gewesen, seinen Bruder zu verurteilen. Es war alles so einfach gewesen!
Aber – konnte er sie diesem Schicksal überlassen?
Vielleicht blieb ihm noch Zeit... Vielleicht konnte er sie durch das Portal tragen und dann zurückkehren...
Voller Hoffnung erhob sich Caramon, um Crysania wieder in seine Arme zu heben. Doch plötzlich nahm er aus seinem Augenwinkel eine Bewegung wahr.
Er drehte sich um und sah Raistlin.
9
»Tritt ein, Ritter der Schwarzen Rose«, wiederholte Dalamar.
Augen aus Flammen starrten Tanis an, der seine Hand auf den Knauf seines Schwertes gelegt hatte. Schlanke Finger berührten seinen Arm und ließen ihn zusammenschrecken.
»Misch dich nicht ein, Tanis«, sagte Dalamar leise. »Wir sind ihm gleichgültig. Er kommt nur wegen eines Wunsches.«
Der flammende Blick ging an Tanis vorbei. Kerzenlicht funkelte auf der uralten, altmodisch verzierten Rüstung, die immer noch unter den geschwärzten Brandstellen und den Spuren eigenen Blutes – vor langer Zeit zu Staub verwandelt – die schwachen Umrisse der Rose, das Symbol der Ritter von Solamnia, zeigte. Füße in Stiefeln, die keinen Laut von sich gaben, durchquerten den Raum. Die orangenen Augen hatten in einer dunklen Ecke ihr Ziel ausfindig gemacht – die zusammengekauerte Gestalt, die unter Tanis’ Umhang lag.
»Halte ihn fern!« hörte Tanis Kitiaras verzweifelte Stimme. »Ich habe dich immer geliebt, Halb-Elf!«
Lord Soth blieb stehen. Er kniete sich neben den Körper. Aber er schien ihn nicht berühren zu können, als ob er von einer unsichtbaren Kraft zurückgehalten würde. Er richtete sich auf, wandte sich um, und seine orangenen Augen flammten in der leeren Dunkelheit unter seinem Helm.
»Gib sie mir frei, Tanis, Halb-Elf«, sagte die hohle Stimme. »Deine Liebe bindet sie. Gib sie auf.«
Mit dem Schwert in der Hand machte Tanis einen Schritt nach vorn.
»Er wird dich töten, Tanis«, warnte Dalamar. »Er wird dich bedenkenlos umbringen. Laß sie zu ihm gehen. Ich glaube, daß er wohl der einzige von uns war, der sie wirklich richtig verstanden hat.«