Die orangenen Augen flackerten. »Sie verstanden? Sie bewundert! Wie ich war sie zum Herrschen geboren, zum Erobern geboren! Aber sie war stärker als ich. Sie konnte die Liebe beiseite werfen, die sie in Ketten zu legen drohte. Hätte nicht das Schicksal entschieden, hätte sie über ganz Ansalon geherrscht!«
Die hohle Stimme hallte im Raum wider, und ihre Leidenschaft und ihr Haß ließen Tanis zusammenfahren.
»Und dann!« Die gepanzerte Faust ballte sich. »Eingepfercht in Sanction wie in einem Käfig, Pläne schmiedend für einen Krieg, den zu gewinnen sie nie hoffen konnte. Ihr Mut und ihre Entschlossenheit ließen nach. Sie hatte sogar entschieden, sich wie ein Sklave in Ketten legen zu lassen wegen eines Dunkelelf-Liebhabers! Es war besser für sie, im Kampf zu sterben, als ihr Leben ausbrennen zu lassen wie eine tropfende Kerze.«
»Nein!« murmelte Tanis, und seine Hand klammerte sich um sein Schwert. »Nein...«
Dalamars Finger schlossen sich um sein Handgelenk. »Sie hat dich niemals geliebt, Tanis«, sagte er ruhig. »Sie hat dich benutzt, so wie sie uns alle benutzt hat, selbst ihn.« Der Dunkelelf sah kurz zu Soth. Tanis schien etwas sagen zu wollen, aber Dalamar kam ihm zuvor. »Sie hat dich bis zum Ende benutzt, Halb-Elf. Selbst jetzt streckt sie ihre Hand aus dem Jenseits und hofft, daß du sie retten wirst.«
Immer noch zauderte Tanis. In seinem Geist brannte das Bild ihres Gesichtes, es war so voller Entsetzen, wie er es zuletzt gesehen hatte. Das Bild brannte. Flammen stiegen empor...
Flammen füllten Tanis’ Blickfeld. Als er in das Feuer starrte, sah er ein Schloß, einst stolz und edel, jetzt schwarz und zerfallen, das von den Flammen zerstört wurde. Er sah ein wunderschönes, zierliches Elfenmädchen mit einem kleinen Kind in den Armen, das den Flammen zum Opfer fiel. Er sah Krieger laufen, er sah sie sterben und den Flammen zum Opfer fallen. Und aus der Flamme heraus hörte er Soths Stimme.
»Du hast das Leben, Halb-Elf. Du hast viel, für das es sich zu leben lohnt. Unter den Lebenden gibt es welche, die auf dich angewiesen sind. Ich weiß es, weil all das, was du hast, auch mir einmal gehörte. Ich warf es fort und wählte ein Leben in der Dunkelheit anstatt im Licht. Wirst du mir folgen? Wirst du alles, was du hast, wegwerfen für eine, die sich vor langer Zeit entschieden hat, auf den Pfaden der Nacht zu wandeln?«
»Ich habe die Welt«, hörte Tanis seine eigenen Worte. Lauranas Gesicht lächelte ihn an.
Er schloß seine Augen... Lauranas Gesicht: wunderschön, weise und lieblich. Licht glänzte auf ihrem goldenen Haar und glitzerte in ihren klaren Elfenaugen. Das Licht wurde heller. Wie ein Stern glänzte es rein und strahlend. Es schien auf ihn mit solch einer Helligkeit, daß er in seiner Erinnerung nicht mehr das kalte Gesicht unter dem Umhang sehen konnte.
Langsam zog Tanis die Hand von seinem Schwert fort.
Lord Soth wandte sich um. Er kniete sich nieder und hob den verdeckten Körper in seinen unsichtbaren Armen hoch. Der Umhang war jetzt vom Blut dunkel befleckt. Er sprach ein paar Worte der Magie. Tanis hatte plötzlich die Vision von einem dunklen Abgrund, der vor den Füßen des toten Ritters gähnte. Eine Kälte, die sich durch die Seele bohrte, fegte durch den Raum; wie bei einem bitterkalten Wind war er gezwungen, sein Gesicht abzuwenden.
Als er wieder hinsah, war die dunkle Ecke leer.
»Sie sind gegangen.« Dalamar ließ sein Handgelenk los. »Und auch Caramon.«
»Gegangen?« Tanis drehte sich unsicher um. Er zitterte, und sein Körper war von eiskaltem Schweiß durchnäßt. Wieder sah er in das Portal. Die brennende Landschaft war leer.
Eine hohle Stimme ertönte: »Wirst du alles, was du hast, wegwerfen für eine, die sich vor langer Zeit entschieden hat, auf den Pfaden der Nacht zu wandeln?«
10
Vor ihm – das Portal.
Hinter ihm – die Königin. Hinter ihm – Schmerzen und Leiden.
Vor ihm – Sieg.
Raistlin stützte sich auf den Stab des Magus. Er war so geschwächt, daß er kaum stehen konnte. Aber stets behielt er das Bild des Portals in seinem Gedächtnis. Ihm schien es, als wäre er eine endlose Meile nach der nächsten gelaufen, gestolpert und gekrochen, um es zu erreichen. Jetzt war er ihm nahe. Er konnte die wunderschönen, glitzernden Farben sehen, Farben des Lebens – grün wie das Gras, blau wie der Himmel, weiß wie die Wolken, schwarz wie die Nacht, rot wie Blut...
Blut. Er sah auf seine Hände. Sie waren befleckt von seinem eigenen Blut. Seine Wunden waren zu zahlreich, als daß er sie zählen konnte. Von Keulen geschlagen, von Schwertern niedergestochen, von Blitzen angesengt, vom Feuer verbrannt worden war er; dunkle Kleriker, schwarze Zauberer, Legionen von Ghulen und Dämonen, alle, die der Dunklen Königin dienten, hatten ihn angegriffen. Seine schwarzen Roben hingen in Fetzen um ihn. Kein Atemzug war ohne verzehrende Qual. Schon vor langer Zeit hatte er aufgehört, Blut zu erbrechen. Und obwohl er hustete, so lange hustete, bis er nicht mehr stehen konnte, sondern gezwungen war, auf seine Knie zu sinken, um sich zu erbrechen, war nichts mehr da. Nichts war mehr in ihm.
Und trotz allem hatte er durchgehalten.
Ein Frohlocken jagte wie Fieber durch seine Adern. Er hatte durchgehalten, er hatte überlebt. Er lebte... gerade eben noch. Aber er lebte. Der Zorn der Königin drohte hinter ihm. Ihr Zorn ließ Boden und Himmel pulsieren. Er hatte alle besiegt, und es war niemand übrig, um ihn herauszufordern. Niemand, nur noch sie selbst.
In seinen Stundenglasaugen schimmerte das Portal in unzähligen Farben. Immer näher kam er, immer näher. Hinter ihm kam die Königin, und ihr Zorn machte sie unachtsam und sorglos. Er würde der Hölle entkommen. Sie konnte ihn jetzt nicht mehr aufhalten. Ein Schatten zog sich über ihn und ließ ihn erschauern. Als er hochschaute, sah er die Finger einer riesigen Hand den Himmel verdunkeln. Die Nägel glitzerten blutrot.
Raistlin lächelte und schleppte sich weiter. Es war ein Schatten, nichts weiter. Die Hand, die den Schatten warf, griff vergeblich nach ihm. Er war seinem Ziel zu nah, und sie, die auf ihre Lakaien gesetzt hatte, daß sie ihn aufhielten, war zu weit entfernt. Ihre Hand würde den Saum seiner zerfetzten schwarzen Roben erfassen, wenn er erst die Schwelle des Portals erreicht hatte, und mit seiner letzten Kraft würde er sie durch die Tür zerren.
Und dann, wer würde sich auf seiner Ebene dann als stärker erweisen?
Raistlin hustete, aber noch während er hustete, und während der Schmerz an ihm riß, lächelte er – nein, er grinste, ein dünnlippiges, blutverschmiertes Grinsen. Er hatte keine Zweifel, überhaupt keine Zweifel.
Eine Hand hielt er gegen die Brust gepreßt, mit der anderen umklammerte er den Stab des Magus. So schob sich Raistlin weiter, sorgfältig mit seinen Energien haushaltend und voller Freude über jeden stechenden Atemzug. Wie ein Geizhals, der sich diebisch über ein Kupferstück freut. Die kommende Schlacht würde glorreich sein. Jetzt war es an ihm, Legionen aufzurufen, die für ihn kämpften. Die Götter selbst würden seinen Ruf beantworten, denn das Erscheinen der Königin auf der Welt in all ihrer Macht und Erhabenheit würde den Zorn des Himmels mit sich bringen. Monde würden herabstürzen, Planeten würden sich in ihren Bahnen verschieben, Sterne würden ihren Verlauf ändern. Die Elemente würden seinen Befehlen gehorchen. Wind, Luft, Wasser, Feuer – alles unter seiner Gewalt.
Und jetzt erhob es sich vor ihm – das Portal. Die Köpfe des Drachen kreischten in ohnmächtigem Zorn, daß ihnen die Macht fehlte, ihn aufzuhalten.
Nur noch ein Atemzug, ein weiterer schlingernder Herzschlag, ein weiterer Schritt...
Er hob seinen Kopf und blieb stehen.
Eine Gestalt, die er zuvor durch die Nebel von Schmerz und Blut und durch die Schatten des Todes nicht bemerkt hatte, wartete vor ihm. Sie stand vor dem Portal, ein glänzendes Schwert in der Hand. Raistlin erstarrte einen Augenblick in völliger Verständnislosigkeit. Dann strömte Freude durch seinen zerstörten Körper.
»Caramon!«