Er streckte eine zitternde Hand aus. Was für ein Wunder ihm Caramon gesandt hatte, wußte er nicht. Aber sein Zwillingsbruder war da, so wie er immer dagewesen war, auf ihn gewartet hatte. Und wieder wartete er, um an seiner Seite zu kämpfen...
»Caramon!« keuchte Raistlin. »Hilf mir, mein Bruder.«
Erschöpfung übermannte ihn, und der Schmerz zwang ihn in seine Gewalt. Rasch verlor er die Kraft zum Denken und zur Konzentration. Seine Magie sprühte nicht mehr durch seinen Körper, sondern bewegte sich träge und gerann wie das Blut an seinen Wunden.
»Caramon, komm zu mir. Ich kann nicht allein laufen...«
Aber Caramon rührte sich nicht. Er stand einfach da, das Schwert in der Hand, und starrte ihn an mit Augen, in denen sich Liebe und Kummer, ein tiefer, brennender Kummer, vermischten. Ein Kummer, der den Nebel des Schmerzes durchschnitt und Raistlins öde, leere Seele freilegte. Und dann wußte auch er alles. Er wußte, warum sein Bruder hier wartete.
»Du stehst mir im Weg, Bruder«, sagte Raistlin kühl.
»Ich weiß.«
»Dann tritt zur Seite, wenn du mir nicht helfen willst!« Raistlins Stimme überschlug sich vor Zorn.
»Nein.«
»Du Narr! Du wirst sterben!« Dies war wieder sein Flüstern, sanft und tödlich.
Caramon holte tief Luft. »Ja«, sagte er entschlossen, »aber dieses Mal auch du.«
Der Himmel über ihnen verdunkelte sich. Schatten sammelten sich um sie, als ob das Licht langsam ausgesaugt würde. Die Luft wurde eisigkalt, und das Licht trübte sich, aber Raistlin spürte hinter sich eine starke flammende Hitze – den Zorn seiner Königin.
Angst verkrampfte seine Eingeweide, Zorn quälte seinen Magen. Worte der Magie drangen in ihm hoch. Wie Blut schmeckten sie auf seinen Lippen. Er wollte sie seinem Bruder entgegenschleudern, aber dann mußte er würgen und husten. Er sank auf seine Knie. Immer noch waren da die Worte, die Magie stand ihm noch zur Verfügung. Er würde seinen Bruder in Flammen brennen sehen, wie er einst, vor langer, langer Zeit, das Abbild seines Bruders im Turm der Erzmagier hatte brennen sehen. Wenn er nur den Atem anhalten könnte...
Der Anfall ging vorüber. Die Worte der Magie überfluteten sein Denken. Er sah auf. Ein groteskes, höhnisches Grinsen verzerrte sein Gesicht, und seine Hand hob sich...
Caramon stand vor ihm, das Schwert in der Hand, und starrte ihn voller Mitleid an.
Mitleid! Der Blick traf Raistlin mit der Wucht von hundert Schwertern. Ja, sein Zwillingsbruder würde sterben, aber nicht mit diesem Blick auf seinem Gesicht!
Raistlin stützte sich auf seinen Stab und zog sich auf die Füße. Er hob seine Hand, warf die schwarze Kapuze von seinem Kopf zurück, so daß sein Bruder sich sehen konnte – dem Untergang geweiht, reflektiert in seinen goldenen Augen.
»Du bemitleidest mich also, Caramon«, zischte er. »Du stümpernder, verrückter Trottel. Du, der du unfähig bist zu begreifen, welche Macht ich erlangt habe, welchen Schmerz ich überwältigt habe, welche Siege ich davongetragen habe. Du wagst es, mich zu bemitleiden? Bevor ich dich töte – und ich werde dich töten, mein Bruder —, will ich, daß du mit dem Wissen in deinem Herzen stirbst, daß ich weitergehe, um auf der Welt ein Gott zu werden!«
»Ich weiß, Raistlin«, antwortete Caramon ruhig. Das Mitleid schwand nicht aus seinen Augen, sondern verstärkte sich nur noch. »Und das ist der Grund, warum ich dich bemitleide. Denn ich habe die Zukunft gesehen. Ich kenne das Ergebnis.«
Raistlin starrte seinen Bruder an. Er argwöhnte einen Trick. Über ihnen wurde der rotgefärbte Himmel immer dunkler, aber die ausgestreckte Hand hatte innegehalten. Er spürte, wie die Königin zögerte. Sie hatte Caramon entdeckt. Raistlin spürte ihre Verwirrung, ihre Angst. Sein schleichender Zweifel verschwand, daß Caramon vielleicht eine Erscheinung sein könnte, nur herbeigerufen, um ihn aufzuhalten. Raistlin trat einen Schritt auf seinen Bruder zu.
»Du hast die Zukunft gesehen? Wie?«
»Als du durch das Portal gegangen bist, hat sich das magische Feld auf unser Gerät ausgewirkt und Tolpan und mich in die Zukunft geworfen.«
Raistlin verschlang seinen Bruder gierig mit den Augen. »Und? Was wird geschehen?«
»Du wirst gewinnen«, antwortete Caramon schlicht und einfach. »Du wirst siegreich sein, nicht nur gegen die Königin der Finsternis, sondern gegen alle Götter. Deine Konstellation allein wird am Himmel strahlen... zumindest eine Zeitlang...«
»Eine Zeitlang?« Raistlins Augen verengten sich. »Sag es mir! Was geschieht? Wer bedroht mich? Wer entthront mich?«
»Du selbst«, erwiderte Caramon, und seine Stimme war voller Traurigkeit. »Du wirst über eine tote Welt herrschen, Raistlin – eine Welt aus grauer Asche und schwelenden Ruinen und aufgedunsenen Leichen. Du wirst allein sein an diesem Himmel, Raistlin. Du wirst versuchen, Neues zu erschaffen, aber es wird nichts übrig sein in dir, was du in Anspruch nehmen könntest, und so saugst du das Leben aus den Sternen selbst, bis sie schließlich explodieren und sterben. Und dann ist nichts mehr um dich, nichts in dir.«
»Nein!« ächzte Raistlin. »Du lügst! Verdammt sollst du sein! Du lügst!« Er schleuderte den Stab des Magus von sich, machte einen Satz nach vorne, und seine Klauenhände packten seinen Bruder. Verblüfft hob Caramon sein Schwert, aber ein Wort von Raistlin genügte, und es fiel auf den Boden, der sich immer noch ständig bewegte. Der große Mann hielt die Arme seines Zwillingsbruders jetzt krampfhaft fest. Er könnte mich entzweibrechen, dachte Raistlin höhnisch. Aber das wird er nicht. Er ist schwach, und er zögert. Er ist verloren. Und ich werde die Wahrheit erfahren!
Raistlin griff nach oben und legte seine glühende, blutverschmierte Hand auf die Stirn seines Bruders. So zog er Caramons Visionen in sein eigenes Bewußtsein.
Und Raistlin sah die Wahrheit.
Er sah all die Knochen der verwüsteten Welt, die Baumstümpfe, den grauen Schlamm und die graue Asche, das geschmolzene Gestein, die verwesenden Leichen...
Er sah sich, wie er in der kalten Leere schwebte, Leere um sich herum, innere Leere. Sie drückte ihn nach unten und zerquetschte ihn. Sie kaute an ihm und verschlang ihn. Er verbog sich in sich selbst, als er verzweifelt nach Nahrung suchte – ein Tropfen Blut, ein wenig Schmerz. Aber es war nichts da. Und niemals würde etwas da sein. Und er würde sich weiter verbiegen und nach innen schlängeln und würde doch nichts finden... nichts... nichts.
Raistlins Kopf sackte nach unten. Seine Hand glitt von der Stirn seines Bruders und ballte sich voller Qualen zusammen. Er wußte jetzt, daß es so geschehen würde, spürte es mit jeder Faser seines zerstörten Körpers. Er wußte es, weil er diese Leere wiedererkannt hatte. Sie war in ihm jetzt schon so lange. Oh, sie hatte ihn noch nicht völlig aufgezehrt – noch nicht. Aber er konnte seine Seele fast sehen, wie sie verängstigt und einsam in einer dunklen und leeren Ecke kauerte.
Mit einem verbitterten Aufschrei schob Raistlin seinen Bruder von sich. Er sah sich um. Die Schatten vertieften sich. Die Dunkle Königin zögerte nicht mehr. Sie sammelte ihre Kräfte.
Raistlin senkte seinen Blick und versuchte zu denken. Er versuchte den Zorn in sich wiederzufinden, versuchte die brennende Flamme seiner Magie zu entzünden. Aber auch sie lag im Sterben. Voller Angst versuchte er zu laufen, aber er war zu geschwächt. Er machte einen Schritt, taumelte und fiel auf Hände und Knie. Die Angst schüttelte ihn. Er suchte nach Hilfe und streckte seine Hand aus...
Er hörte ein Geräusch, ein Stöhnen und einen Schrei. Seine Hand griff in einen weißen Stoff, und er fühlte warmes Fleisch!
»Bupu!« flüsterte Raistlin. Mit einem erstickten Schluchzen kroch er vorwärts.
Die Gossenzwergin lag vor ihm, ihr Gesicht abgehärmt und verhungert, ihre Augen voller Angst aufgerissen. Erbarmungswürdig sah sie aus und verängstigt. Entsetzt schrak sie vor ihm zurück.
»Bupu!« schrie Raistlin und packte sie verzweifelt. »Bupu, erinnerst du dich nicht an mich? Du hast mir einmal ein Buch geschenkt. Ein Buch und einen Edelstein.« Er stöberte in einem seiner Beutel und zog einen strahlenden grünen Stein hervor. »Hier, Bupu. Sieh, ›der hübsche Stein‹. Nimm ihn, und behalt ihn! Er wird dich beschützen!«