Sie griff nach ihm, aber dabei erstarrten ihre Finger im Tod.
»Nein!« kreischte Raistlin und spürte Caramons Hand an seinem Arm.
»Laß sie in Ruhe!« schrie Caramon barsch, packte seinen Bruder und schleuderte ihn von sich. »Hast du ihr nicht schon genug angetan?«
Caramon hielt wieder sein Schwert in der Hand. Dessen strahlendes Licht schmerzte Raistlins Augen. Und in diesem Licht sah Raistlin Crysania – nicht Bupu —, die Haut geschwärzt und mit Brandblasen überzogen. Ihre Augen starrten ihn blind an.
Leer... leer. Nichts in ihm? Doch... Etwas war da. Etwas, nicht viel, aber etwas. Seine Seele streckte ihre Hand aus. Seine eigene Hand streckte sich aus und berührte Crysanias verbrannte Haut. »Sie ist nicht tot, noch nicht«, sagte er.
»Nein, noch nicht«, erwiderte Caramon mit erhobenem Schwert. »Laß sie in Ruhe! Laß sie wenigstens in Frieden sterben!«
»Sie wird leben, wenn du sie durch das Portal bringst.«
»Ja, sie wird leben«, sagte Caramon bitter, »und auch du, nicht wahr, Raistlin? Ich bringe sie durch das Portal, und du kommst direkt hinter uns...«
»Nimm sie.«
»Nein!« Caramon schüttelte den Kopf. Obgleich Tränen in seinen Augen schimmerten und sein Gesicht blaß war vor Trauer und Qual, trat er mit dem erhobenen Schwert zu seinem Bruder.
Raistlin hob seine Hand. Caramon konnte sich plötzlich nicht mehr bewegen, und sein Schwert schwebte in der heißen unruhigen Luft.
»Nimm sie, und nimm auch dies.«
Raistlins zerbrechliche Hand schloß sich um den Stab des Magus, der neben ihm lag. Das Licht seines Kristalls glühte hell und stark in der tiefer werdenden Dunkelheit und warf sein magisches Licht über alle drei. Raistlin hob den Stab und hielt ihn seinem Bruder entgegen.
Caramon zögerte. Seine Brauen furchten sich.
»Nimm ihn!« schnappte Raistlin und spürte seine Kraft schwinden. Er hustete. »Nimm ihn!« flüsterte er, nach Luft keuchend. »Nimm ihn und sie und geh zurück durch das Portal. Mit dem Stab kannst du es hinter dir schließen.«
Caramon starrte ihn verständnislos an. Dann verengten sich seine Augen.
»Nein, ich lüge nicht«, fauchte Raistlin. »Ich habe dich früher angelogen, aber nicht jetzt. Versuch es. Überzeug dich selbst. Sieh. Ich löse dich aus der Verzauberung. Ich kann keinen weiteren Zauber mehr werfen. Wenn du herausfindest, daß ich lüge, kannst du mich töten. Ich werde nicht mehr in der Lage sein, dich aufzuhalten.«
Caramons Schwertarm war frei. Er konnte ihn wieder bewegen. Das Schwert hielt er fest in seiner Hand. Seine Augen richtete er auf seinen Bruder, dann streckte er zögernd die andere Hand aus. Seine Finger berührten den Stab, und er beobachtete ängstlich das Licht des Kristalls. Er erwartete, daß es ersterben und sie in der zunehmenden eisigen Dunkelheit zurücklassen würde.
Aber das Licht schwankte nicht. Caramons Hand schloß sich über der Hand seines Bruders um den Stab. Das Licht leuchtete hell und strahlte auf die zerrissenen, blutigen schwarzen Roben und die stumpfe, schlammüberzogene Rüstung.
Raistlin ließ den Stab los. Langsam, wie im Sturz taumelte er auf die Füße und zog sich selbst hoch. Ohne Hilfe stand er allein da. Der Stab in Caramons Hand leuchtete weiter.
»Beeil dich«, sagte Raistlin kalt. »Ich werde die Königin davon abhalten, dir zu folgen. Aber meine Kraft wird nicht lange standhalten.«
Caramon starrte ihn einen Moment an und sah dann auf den Stab. Sein Licht brannte immer noch hell. Schließlich atmete er erregt ein und steckte sein Schwert ein.
»Was wird... mit dir geschehen?« fragte er barsch und bückte sich, um Crysania auf seine Arme zu nehmen.
»Du wirst an Geist und Körper gefoltert werden. Und am Ende jeden Tages wirst du an den Schmerzen sterben. Und zu Beginn jeder Nacht werde ich dich zum Leben erwecken. Du wirst nicht schlafen können, sondern in bebender Erwartung wach daliegen, was der nächste Tag bringen wird. Und morgens wird dein erster Blick auf mein Gesicht fallen.«
Die Worte wanden sich in Raistlins Gehirn wie Schlangen. Hinter sich konnte er ein schwülstiges, höhnisches Lachen hören.
»Fort mit dir, Caramon«, sagte Raistlin. »Sie kommt.«
Crysanias Kopf ruhte an Caramons breiter Brust. Das dunkle Haar fiel über ihr blasses Gesicht, und ihre Hand hielt immer noch das Medaillon von Paladin umklammert. Als Raistlin sie betrachtete, sah er die Verheerungen des Feuers schwinden. Ihr Gesicht blieb ohne Narben zurück, gemildert von einem Blick süßer, friedlicher Ruhe. Raistlins Blick richtete sich auf das Gesicht seines Bruders, und er sah den gleichen dümmlichen Ausdruck, den er bei Caramon schon so oft gesehen hatte – diesen Blick der Verwirrung, der sprachlosen Verletztheit.
»Du wimmernder Narr! Was schert es dich, was aus mir wird?« fauchte Raistlin. »Verschwinde!«
Caramons Miene veränderte sich, oder vielleicht veränderte sie sich auch nicht. Vielleicht war sie die ganze Zeit so gewesen. Raistlins Kraft schwand sehr schnell, und sein Blick trübte sich. Aber er glaubte auf einmal, in Caramons Augen Verstehen erkennen zu können...
»Auf Wiedersehen... mein Bruder«, sagte Caramon.
Mit Crysania in seinen Armen und dem Stab des Magus in einer Hand drehte sich Caramon um und ging fort. Das Licht des Stabes bildete einen silbernen Kreis um ihn, der in der Dunkelheit wie die Strahlen von Solinari leuchteten, wenn sie auf dem ruhigen Wasser des Krystalmirsees glitzerten. Die silbernen Strahlen umhüllten die Köpfe des Drachen und ließen sie einfrieren; sie verwandelten sie in Silber und brachten ihre Schreie zum Schweigen.
Caramon trat durch das Portal. Raistlin, der ihn mit seiner ganzen Seele beobachtet hatte, erhaschte einen verschwommenen Blick von Farbe und Leben und spürte Wärme seine eingefallene Brust berühren.
Hinter sich konnte er das höhnische Lachen in ein harsches, zischendes Atmen übergehen hören. Er konnte die gleitenden Geräusche eines riesigen geschuppten Schwanzes hören und das Knirschen von Flügelsehnen. Hinter ihm flüsterten fünf Köpfe Worte der Qual und der Angst.
Raistlin stand unerschütterlich da und starrte auf das Portal. Er sah Tanis herbeilaufen, um Caramon zu helfen, er sah, wie er Crysania in die Arme nahm. Tränen ließen Raistlins Blick verschwimmen. Er wollte so gerne folgen! Er wollte so sehr, daß Tanis seine Hand berührte! Er wollte Crysania in seinen Armen halten... Er trat einen Schritt nach vorn.
Er sah, daß Caramon sich umdrehte und ihn ansah. Den Stab hielt er in seiner Hand.
Caramon starrte in das Portal und auf seinen Bruder und hinter seinen Bruder. Raistlin sah auch, daß sich die Augen seines Bruders vor Angst weiteten.
Er brauchte sich nicht mehr umzudrehen, um zu wissen, was sein Bruder hinter ihm sah. Takhisis kauerte hinter ihm. Er konnte die Eiseskälte fühlen, die von ihrem widerlichen Reptilkörper ausströmte und die seine Roben aufflattern ließ. Er spürte sie hinter sich. Dennoch waren ihre Gedanken nicht auf ihn gerichtet. Sie sah den Weg zur Welt offen vor sich...
»Schließ es!« schrie Raistlin.
Eine Explosion versengte Raistlins Fleisch mit Flammen. Eine Krallenklaue krallte sich in seinen Rücken. Er taumelte und fiel auf die Knie. Aber er wandte niemals seinen Blick vom Portal, und er sah Caramon. Das Gesicht seines Bruders war vor Qual verzerrt, und er machte einen Schritt nach vorne, einen Schritt auf ihn zu.
»Schließ es, du Narr!« schrie Raistlin und ballte seine Fäuste. »Laß mich in Ruhe! Ich brauche dich nicht mehr!«
Und dann war das Licht verschwunden. Das Portal wurde zugeschlagen, und die Schwärze schlug mit tobender, erdrückender Wut auf ihn ein. Krallen schlitzten sein Fleisch auf, Zähne gruben sich durch seine Muskeln und zermalmten seine Knochen. Blut strömte aus seiner Brust, aber es würde sein Leben nicht davontragen.
Er schrie, und er würde schreien, und er würde immer weiter schreien, unaufhörlich...
Etwas berührte ihn... eine Hand... Er umklammerte sie, als sie ihn sanft schüttelte. Eine Stimme rief: »Raist! Wach auf! Es war nur ein Traum. Hab keine Angst. Ich werde nicht zulassen, daß sie dir wehtun! Hier, paß auf... Ich bring’ dich zum Lachen.«