Caramon stöhnte. »Wo ist sie?«
»Ich setzte sie für ihn an einem netten Platz ab. An einem sehr netten Platz. Wir sind über ein wirklich wohlhabendes Viertel einer Stadt geflogen. Ronnie fand Gefallen daran – an der Zitadelle, nicht an der Stadt. Na ja, vermutlich fand er auch Gefallen an dieser Stadt, wenn ich darüber nachdenke. Jedenfalls war er eine große Hilfe und alles, darum fragte ich ihn, ob er die Zitadelle möchte, und er sagte, ja, und so habe ich das Ding einfach hinunter auf einen leeren Platz geknallt.
Es löste eine echte Sensation aus«, fügte Tolpan glücklich hinzu. »Ein Mann kam aus einem ziemlich großen Schloß gerannt, das sich auf einem Hügel direkt daneben befand, wo ich die Zitadelle fallen gelassen hatte, und er fing an zu schreien, das wäre sein Grundstück und welches Recht wir hätten, ein Schloß darauf fallen zu lassen. Es gab einen wundervollen Streit. Ich wies darauf hin, daß mit Schloß und Zitadelle noch immer nicht das gesamte Anwesen bedeckt war, und ich erwähnte einige Dinge über das Teilen. Das hätte ihm ein wenig geholfen, da bin ich sicher, wenn er nur zugehört hätte. Dann begann Ronnie zu erklären, daß er die ganze Burp-Sippe oder so etwas Ähnliches holen wollte und daß sie alle in der Zitadelle leben würden, und der Mann bekam irgendeinen Anfall, und sie trugen ihn weg. Und dann war die ganze Stadt da. Es war eine Weile richtig aufregend, aber schließlich wurde es langweilig. Ich war froh, daß Feuerblitz sich entschlossen hatte, mitzukommen. Er brachte mich dann zurück.«
»Davon hast du mir überhaupt nichts erzählt!« sagte Caramon und funkelte den Kender an. Angestrengt versuchte er, grimmig dreinzublicken.
»Ich... ich vermute, es ist mir entglitten«, murmelte Tolpan. »Ich hatte in diesen Tagen schrecklich viel nachzudenken, weißt du.«
»Das weiß ich, Tolpan«, sagte Caramon. »Ich habe mir schon Sorgen um dich gemacht. Gestern habe ich dich mit anderen Kendern sprechen sehen. Du könntest nach Hause gehen, weißt du. Du hast mir einmal gesagt, daß du daran denken würdest, zurück nach Kenderheim zu gehen.«
Tolpans Gesicht wurde plötzlich ungewöhnlich ernst. Er ließ seine Hand in Caramons Pranke gleiten, rückte näher zu ihm und sah zu ihm auf. »Nein, Caramon«, sagte er leise. »Es ist nicht mehr so wie früher. Ich... ich kann anscheinend nicht mehr mit anderen Kendern reden.« Er schüttelte seinen Kopf, und sein Haarzopf schwirrte hin und her. »Ich versuchte, ihnen von Fizban und seinem Hut zu erzählen, und von Flint und seinem Baum und... und von Raistlin und dem armen Gnimsch.« Tolpan schluckte und fischte ein Taschentuch hervor, um sich über die Augen zu wischen. »Sie scheinen es einfach nicht zu verstehen. Sie... sie... nun ja... nehmen einfach keinen Anteil. Es ist schwer, Anteil zu nehmen – nicht wahr, Caramon? Es tut manchmal weh.«
»Ja, Tolpan«, antwortete Caramon leise. Sie waren in ein schattiges Wäldchen getreten. Tanis wartete dort auf sie. Er stand unter einer hohen anmutigen Espe, deren neue Frühlingsblätter golden in der Morgensonne glänzten. »Es tut sehr oft weh. Aber der Schmerz ist besser, als wenn man im Innern leer ist.«
Tanis ging zu ihnen hinüber. Einen Arm legte er um Caramons breite Schulter, den anderen um Tolpan. »Bereit?« fragte er.
»Bereit«, erwiderte Caramon.
»Gut. Die Pferde stehen dort drüben. Ich dachte, wir reiten. Wir könnten eine Kutsche nehmen, aber – um ganz ehrlich zu sein – ich hasse es, in diesem verdammten Ding eingepfercht zu sein. Laurana auch, obwohl sie das niemals zugeben würde. Die Landschaft ist wunderschön in dieser Jahreszeit. Wir nehmen uns Zeit und genießen sie.«
»Du lebst in Solanthas, nicht wahr, Tanis?« fragte Tolpan, als sie ihre Pferde bestiegen hatten und die geschwärzte, zerstörte Straße hinabritten. Die Leute, die nach der Beerdigung zurückgekehrt waren, um die Scherben ihres Lebens in die Hand zu nehmen, hörten die fröhliche Stimme des Kenders noch lange durch die Straßen hallen, nachdem er verschwunden war.
»Ich war einmal in Solanthas. Sie haben ein schrecklich feines Gefängnis dort. Eines der nettesten, in denen ich jemals war. Ich war dort natürlich aufgrund eines Mißverständnisses. Wegen so einer silbernen Teekanne, die ganz zufällig in einen meiner Beutel gepurzelt war...«
Dalamar stieg die steile Wendeltreppe hoch, die zum Laboratorium oben im Turm der Erzmagier führte. Er stieg die Stufen hoch, anstatt sich durch seine Magie dorthin versetzen zu lassen, weil er noch in dieser Nacht eine lange Reise vor sich hatte. Zwar hatten Elistans Kleriker seine Wunden geheilt, aber er war immer noch geschwächt und wollte seine Kräfte nicht zu sehr strapazieren.
Später, wenn der schwarze Mond im Himmel stand, würde er durch die Zeit zum Turm der Erzmagier in Wayreth reisen, um einer Versammlung der Zauberer beizuwohnen – einer der wichtigsten, die in dieser Epoche abgehalten wurde. Par-Salian trat als Oberhaupt der Versammlung zurück. Sein Nachfolger würde bestimmt werden. Es würde wahrscheinlich Justarius sein, ein Magier der Roten Roben. Dalamar störte das nicht. Er wußte, daß er für den Posten des Erzmagiers noch nicht mächtig genug war. Auf jeden Fall jetzt noch nicht. Aber es gab gewisse Anzeichen, daß auch ein neues Oberhaupt des Ordens der Schwarzen Roben gewählt werden sollte. Dalamar lächelte. Er hatte keine Zweifel, wer das sein würde.
Er hatte all seine Vorkehrungen für den Aufbruch getroffen. Die Wächter hatten ihre Anweisungen: Niemandem – lebend oder tot – war der Einlaß in den Turm während seiner Abwesenheit gestattet. Es war unwahrscheinlich, daß jemand ihn begehren würde. Der Eichenwald von Shoikan war von den Flammen verschont geblieben, die durch das restliche Palanthas gefegt waren, und hielt seine eigene grimmige Wache aufrecht. Aber die finstere Einsamkeit, für die der Turm so lange bekannt gewesen war, würde bald zu Ende sein.
Auf Dalamars Befehl waren einige Zimmer im Turm gesäubert und eingerichtet worden. Er plante, mehrere Lehrlinge mitzubringen – Schwarze Roben auf jeden Fall, aber vielleicht eine Rote Robe oder zwei, wenn er geeignete fand. Er freute sich darauf, die Kenntnisse weiterzureichen, die er erworben hatte, sein Wissen und seine Fähigkeiten anderen zur Verfügung zu stellen. Und – er mußte es sich selbst eingestehen – er freute sich auf Kameradschaft und Geselligkeit.
Aber zuerst mußte er noch etwas erledigen.
Als er das Laboratorium betrat, hielt er an der Schwelle inne. Er war nicht mehr hier gewesen, seitdem Caramon ihn an jenem letzten, schicksalserfüllten Tag hinausgetragen hatte. Jetzt war es Nacht. Der Raum war dunkel. Auf ein Wort hin entzündeten sich Kerzen und wärmten den Raum mit einem sanften Licht. Aber die Schatten blieben und schwebten in den Ecken wie lebende Dinge.
Dalamar hob den Kerzenhalter in seiner Hand hoch und machte einen langsamen Rundgang durch das Zimmer. Dabei wählte er zahlreiche Gegenstände aus – Schriftrollen, einen Zauberstab, mehrere Ringe – und schickte sie mit einem Befehl nach unten in sein eigenes Arbeitszimmer.
Er ging auch an der dunklen Ecke vorbei, wo Kitiara gestorben war. Ihr Blut befleckte noch immer den Boden. Dieser Teil des Raumes war eisigkalt, und Dalamar hielt sich dort nicht lange auf. Er ging an dem Steintisch mit seinen Bechern und Flasehen vorbei. Die Augen in ihnen starrten ihn immer noch flehend an. Mit einem Wort erlaubte er ihnen, sich zu schließen – für immer.
Schließlich kam er zum Portal. Die fünf Drachenköpfe, die ewig in die Leere starrten, schrien noch immer ihren stummen, eingefrorenen Lobgesang zur Dunklen Königin. Das einzige Licht, das auf ihren dunklen, leblosen Metallköpfen glänzte, war ein Widerschein von Dalamars Kerzen. Er sah in das Portal. Da war nichts. Lange Zeit starrte Dalamar hinein. Dann streckte er seine Hand aus und zog an einer goldsilbernen Kordel, die von der Decke hing. Ein dicker Vorhang fiel herab und verhüllte das Portal mit schwerem purpurroten Samt.