»Natürlich«, wollte der Drache gerade erwidern. Aber als er in Tolpans hoffnungsvolle Augen sah, knurrte Khirsah. »Natürlich nicht!« gab er verächtlich zurück. Langsam und sorgfältig setzte er den Kender auf seinen Rücken zwischen die Flügel. »Ich werde dich zu Tanis, dem Halb-Elfen, bringen, wenn das dein Wunsch ist. Ich habe jedoch keinen Drachensattel, da wir ohne Krieger als Reiter kämpfen, darum halte dich gut an meiner Mähne fest.«
»Ja, Feuerblitz«, rief Tolpan hocherfreut, richtete seine Beutel und packte die bronzene Mähne des Drachen mit seinen beiden kleinen Händen. Plötzlich kam ihm ein Gedanke. »Sag mal, Feuerblitz«, schrie er, »du wirst doch dort oben keine abenteuerlichen Sachen unternehmen – umgekehrt heruntersausen oder direkt zur Erde stürzen – oder? Es ist sicherlich sehr unterhaltsam, aber es könnte vielleicht für mich etwas unbequem sein, da ich ja nicht angegurtet bin oder etwas...«
»Nein«, erwiderte Khirsah lächelnd. »Ich werde dich so schnell und so direkt wie möglich dorthin befördern, damit ich wieder in die Schlacht zurückkehren kann.«
»Ich bin bereit, wenn du bereit bist!« rief Tolpan und trat mit seinen Fersen in Khirsahs Flanken, als der bronzene Drache in die Luft sprang. Von den Windströmungen erfaßt, erhob er sich in den Himmel und glitt über die Stadt Palanthas nach oben.
Es wurde kein vergnüglicher Ritt. Als Tolpan einen Blick nach unten warf, hielt er den Atem an. Fast die gesamte Neustadt stand in Flammen. Da sie evakuiert worden war, strömten die Drakonier unbehelligt durch die Straßen, plünderten und brannten alles systematisch nieder. Die guten Drachen waren in der Lage gewesen, die blauen und schwarzen Drachen vom völligen Zerstören der alten Stadt abzuhalten – damit sie es nicht zerstören konnten wie einst Tarsis —, und die Verteidiger der Stadt hielten den Drakoniern stand. Aber Lord Soths Angriff hatte schwere Verluste gebracht. Tolpan konnte von seinem hohen Aussichtspunkt aus die Leichen von Rittern und ihren Pferden in den Straßen herumliegen sehen wie Zinnsoldaten, die von einem Kind herumgeworfen worden waren. Und noch während er das beobachtete, konnte er Lord Soth sehen, der ungehindert weiterritt, wobei seine Krieger jedes Lebewesen abschlachteten, das ihren Weg kreuzte. Das angsterregende Gejammer der dunklen Hexen tönte durch die Schreie der Sterbenden.
Tolpan schluckte entsetzt. »O je«, flüsterte er, »angenommen, es ist mein Fehler! Ich weiß es aber nicht wirklich. Caramon hat mich ja nicht weiter in dem Buch lesen lassen! Ich habe lediglich angenommen – nein«, beantwortete Tolpan entschlossen seine eigene Frage, »wenn ich Tanis nicht gerettet hätte, dann wäre Caramon im Eichenwald gestorben. Ich tat, was ich tun mußte, und da es solch ein Kuddelmuddel ist, werde ich darüber nicht mehr nachdenken, niemals wieder.«
Dieses Problem hatte er dann auch sehr schnell aus seinem Bewußtsein verdrängt – wie die entsetzlichen Dinge, die er unten auf dem Boden sah —, und so spähte der Kender durch den Rauch, um zu sehen, was im Himmel passierte. Er bemerkte flüchtig eine Bewegung hinter sich und sah einen riesigen blauen Drachen, der sich gerade von der Straße in der Nähe des Eichenwaldes von Shoikan erhob. »Kitiaras Drache!« murmelte Tolpan, als er Skie erkannte. Aber der Drache hatte keinen Reiter. Kitiara war nirgendwo zu sehen.
»Feuerblitz!« rief Tolpan warnend und wand sich, um den blauen Drachen weiter beobachten zu können, der sie gesichtet hatte und jetzt seine Richtung änderte und auf sie zusteuerte.
»Ich bin mir seiner bewußt«, erwiderte Khirsah kühl und warf Skie einen flüchtigen Blick zu. »Mach dir keine Sorgen, wir haben unser Ziel fast erreicht. Ich werde dich dort absetzen, Kender, und mich dann um meinen Feind kümmern.«
Als Tolpan sich wieder umwandte, sah er, daß sie tatsächlich der fliegenden Zitadelle schon sehr nahe waren. Alle Gedanken an Kitiara und blaue Drachen waren sofort ausgelöscht. Die Zitadelle war aus der Nähe betrachtet noch schöner als von unten. Er konnte recht deutlich die riesigen, zerklüfteten Gesteinsbrocken sehen, die unter ihr hingen – Reste des einstigen Fundaments, auf dem sie gebaut worden war.
Magische Wolken brodelten um sie herum und hielten sie am Himmel. Blitze zischten und knisterten zwischen den Türmen. Als Tolpan die Zitadelle selbst betrachtete, sah er riesige Risse, die sich an allen Seiten in den Mauern der Festung hochschlängelten – Schäden, die von der gewaltigen Kraft herrührten, die notwendig war, um das Gebäude aus der Erde zu reißen. Licht strahlte aus den Fenstern der drei hohen Türme der Zitadelle und aus den vorderen offenen Fallgittern, aber Tolpan konnte außen kein Lebenszeichen entdecken. Er hatte jedoch keinen Zweifel, daß sich innen jede Art von Leben aufhalten würde!
»Wohin möchtest du gern gebracht werden?« fragte Khirsah mit Ungeduld in seiner Stimme.
»Es ist alles recht, danke«, erwiderte Tolpan höflich und voller Verständnis dafür, daß der Drache erpicht war, wieder in die Schlacht zurückzukehren.
»Ich glaube allerdings nicht, daß der Haupteingang ratsam ist«, sagte der Drache und machte plötzlich einen Schwenker in seinem Flug. Er legte sich scharf in eine Kurve und kreiste um die Zitadelle. »Ich bringe dich zum hinteren Teil.«
Tolpan wollte sich wieder bedanken, aber sein Magen hatte aus unerfindlichen Gründen plötzlich einen Sprung gemacht, während sein Herz in die entgegengesetzte Richtung gehüpft war, als er durch die kreisende Bewegung des Drachen in der Luft auf die andere Seite geworfen wurde. Dann brachte Khirsah sich wieder in eine horizontale Lage, und als sie nach unten gesaust waren, landete er glatt und ruhig in einem verlassenen Hof. Einen Augenblick war Tolpan beschäftigt, seine Eingeweide wieder zu richten, und dann war er gerade noch in der Lage, vom Drachenrücken herunterzugleiten und in den Schatten zu hüpfen. Gedanken über gesellschaftliche Artigkeiten macht er sich ohnehin nie.
Einmal auf festem Boden (nun ja, eine Art fester Boden jedenfalls), fühlte sich der Kender wesentlich wohler.
»Auf Wiedersehen, Feuerblitz!« rief er und winkte mit seiner kleinen Hand. »Ich danke dir! Viel Glück!«
Aber falls der Bronzene ihn hörte, antwortete er nicht. Khirsah stieg schnell hoch und suchte Platz in der Luft zu gewinnen. Skie sauste ihm nach. Seine roten Augen glühten vor Haß. Mit einem Achselzucken und einem kleinen Seufzer überließ Tolpan sie ihrer Schlacht. Er wandte sich ab und musterte seine Umgebung.
Er stand im hinteren Teil der Festung auf den Resten eines Hofes. Er war offensichtlich zerstört worden, als die Zitadelle aus dem Boden gerissen wurde. Als Tolpan bemerkte, daß er sich tatsächlich ungemütlich dicht am Rand der zerbrochenen Steinplatten befand, eilte er schnell auf die Mauer der Festung zu. Dabei bewegte er sich leise und hielt sich mit der instinktiven meisterhaften Verstohlenheit, über die alle Kender von Geburt an verfügen, im Schatten.
Er blieb stehen und sah sich um. Es gab eine Hintertür zur Festung, aber das war eine riesige, mit Eisenstangen versehene Holztür. Und obwohl sie ein hochinteressantes Schloß hatte, so daß es ihm in den Fingern juckte, es auszuprobieren, malte sich der Kender mit einem Seufzer aus, daß wahrscheinlich eine ebenso interessante Wache auf der anderen Seite stehen würde. Es war für ihn gewiß besser, durch ein Fenster zu kriechen, und zufällig leuchtete auch direkt über ihm eines.
Trotzdem weit entfernt von ihm.
»Verdammt!« brummte Tolpan. Das Fenster war mindestens zwei Meter vom Boden entfernt. Als Tolpan sich umschaute, fand er einen Steinbrocken, und mit viel Schieben und Stoßen gelang es ihm, den Stein unterhalb des Fensters zu manövrieren. Er kletterte hoch und spähte vorsichtig hinein.
Zwei Drakonier lagen in einem Steinhaufen auf dem Boden. Ihre Köpfe waren zerschmettert. Ein anderer Drakonier lag tot daneben, sein Kopf war vollständig vom Körper abgetrennt. Außer diesen Leichen war nichts oder niemand in dem Zimmer. Auf Zehenspitzen streckte Tolpan seinen Kopf ins Innere und horchte. Nicht weit entfernt konnte er das Klirren von Metall und grobe Schreie und Kreischen und immer wieder ein gewaltiges Brüllen hören.