Gerbert trat noch etwas näher, senkte aber die Stimme nicht.
»Auf der einen Seite ist da der Beweis … die offenkundige Straftat, und auf der anderen nur das Wort dieser Frau …«
»Mein Bruder«, warf Ermengarde ungeduldig ein, »wenn Ihr Euch in den Kopf gesetzt habt, Dame Cathérine als Schuldige zu behandeln, werde ich Euch das Wort entziehen. Dürfte ich erfahren, was Ihr zu tun beabsichtigt?«
Der harte Blick des Clermontesers milderte sich nicht. Er richtete sich voll Verachtung auf Cathérine, die vor Wut schäumte, und kehrte dann zu ihrer Freundin zurück.
»Das einzig Angemessene: Dame Cathérine den frommen Mönchen übergeben, die sie nach Conques bringen, wo die Gerichtsbarkeit des Abtes …«
»Wo sie von der Menge zerrissen wird, bevor sie überhaupt zur Abtei gelangt! Nein, Messire, sie wird nicht nach Conques zurückkehren. Euch genügt ihr Wort vielleicht nicht, aber mir ist es mehr als genug, denn ich kenne sie. Außerdem hört gut zu: Ihr habt eure Rubine wieder, das ist sehr schön. Nehmt sie mit, ihr Herren Mönche, gebt sie eurer Heiligen zurück … mit diesem da, um euch für eure Mühe zu bezahlen!« Während sie sprach, warf sie dem ihr am nächsten stehenden der Mönche eine ziemlich pralle Börse zu, die der Ordensmann flugs auffing. »Was uns betrifft, so laßt uns in Frieden ziehen!«
»Und wenn nicht?« fragte Gerbert hochmütig.
»Wenn nicht«, entgegnete Ermengarde ruhig, »werden wir uns einen Weg durch eure Reihen bahnen!«
»Ihr seid nicht viele!«
»Vielleicht. Aber wir haben die Waffen … und den Mut! Jeder einzelne meiner Männer ist zehn von euch wert. Also ist das Spiel gleich. Es ist möglich, daß wir den kürzeren ziehen, ich glaube es aber nicht. Auf jeden Fall würde unser Tod Euch zu teuer zu stehen kommen. Nicht viele von euch, fromme Leute, würden unversehrt ihren Weg nach Compostela fortsetzen können! Cathérine, bittet unsere gute Schwester, Euch Euer Eigentum zurückzugeben.«
»Niemals«, rief die Nonne, entschlossen, nicht die Waffen zu strecken. »Dieses Kleinod rührt sicher von einem Diebstahl her! Es muß ebenfalls dem Pater Abt ausgehändigt werden.« Mit einem überdrüssigen Seufzer entriß die Gräfin ihr den Almosenbeutel, überzeugte sich, daß nichts fehlte, und reichte alles wortlos Cathérine. Dann drehte sie sich zu einer ihrer Frauen um und befahclass="underline"
»Amielle! Die Pferde! Ihr werdet Dame Gillette de Vauchelles das lassen, welches sie reitet.«
Aber die Angesprochene trat entschlossen vor und stellte sich neben Cathérine. »Ich gehe mit Euch! Ich glaube an die Schuldlosigkeit Dame Catherines. Man hat nicht ihre Güte, wenn man vom Wege abgekommen ist!«
»Und ich auch, ich glaube auch daran!« rief nun auch Margot la Déroule. »Ich möchte Euch folgen! Außerdem braucht mich Dame Gillette.«
Ermengarde de Châteauvillain lachte.
»Paßt auf, Messire Bohat, es wird nicht lange dauern, und Ihr habt niemand mehr um Euch.«
»Das würde mich erstaunen! Die anständigen Leute haben keine Lust, ihren Weg mit einer suspekten Frau fortzusetzen, die uns nur Unglück bringen könnte. Geht! Da es nun einmal nicht möglich ist, die Schuldige ohne Blutvergießen der Gerechtigkeit zuzuführen, wollen wir euch nicht mehr sehen!«
Er stand aufrecht vor der dichten Front der Pilger, die sich gegenseitig wegzudrängen schienen, um aus der unmittelbaren Nähe der Verdächtigen zu kommen. Einige bekreuzigten sich … Cathérine hätte vor Wut weinen können. Und als sie Gerbert ansah, der, sehr korrekt in seiner dunklen Kleidung, den dicken Stab in der Hand, mit verachtungsvoller Geste auf sie wies, hätte sie am liebsten geheult. Sie brannte vor Scham. Und als Ermengarde sie mit einer Handbewegung einlud, das frei gebliebene Pferd zu besteigen, rief sie:
»Wie kann ich aufbrechen, ohne meine Schuldlosigkeit bewiesen zu haben, ohne …«
»Wenn Ihr die geringste Chance hättet, den Beweis anzutreten, würde ich Euch raten, nach Conques zurückzukehren«, entgegnete Ermengarde. »Aber diese Leute würden Euch keine Zeit dazu lassen. Es sind nur Fanatiker ohne eigenes Urteil. Was Euch betrifft, meine Liebe, wenn man den Namen trägt, den Ihr tragt, braucht man sich dem Urteil von Bauernlümmeln nicht zu unterwerfen! In den Sattel!«
Gebändigt und etwas beruhigt durch die Verachtung, die zumindest ebenso deutlich wie die Gerberts in der Stimme der alten Dame vibrierte, setzte sie die Fußspitze auf die ihr von Béraud gebotene Hand und schwang sich in den Sattel … Die Menge wich vor dem kleinen Trupp zurück, der durch Gillette vergrößert wurde, hinter der sich Margot, glücklich wie ein junges Mädchen, auf die Kruppe geschwungen hatte … Furcht und Mißbilligung zeichneten alle Gesichter, was bei der Dame Châteauvillain nur ein verächtliches Schulterzucken hervorrief. Doch als Cathérine an Gerbert Bohat vorbeiritt, hielt sie ihr Pferd an und sagte von oben herab:
»Ihr habt mich verdammt, ohne mich anzuhören, Messire Bohat. Für Euch, der Ihr schon immer gegen mich eingenommen wart, konnte ich nur schuldig sein. Ist das Eure Gerechtigkeit und Rechtlichkeit? Wenn ich bei meinem Seelenheil schwöre, daß ich diese Steine nie berührt habe, könnt Ihr mir dann glauben? Der erste beste könnte Euch sagen, daß ich vor der Prozession nach Hause gegangen bin und die Herberge nicht mehr verlassen habe …«
»Was verliert Ihr Eure Zeit, mit Leuten zu diskutieren, die dickschädeliger als rote Esel sind?« rief Ermengarde ungeduldig.
Inzwischen hatte Gerbert die Augen zu der jungen Frau gehoben und murmelte mit tonloser Stimme:
»Vielleicht hattet Ihr einen Komplicen! Wenn Ihr unschuldig seid, geht in Frieden, aber ich halte das nicht für möglich. Was mich betrifft …«
»Was Euch betrifft, seid Ihr nur zu glücklich, mich unter diesem Vorwand zu hindern, weiter mit Euch zu reisen, nicht wahr?«
»Ja«, gab er freimütig zu. »Ich bin glücklich! In Eurer Nähe kann kein Mann ernstlich an sein Seelenheil denken. Ihr seid eine gefährliche Frau. Es ist gut, daß Ihr uns verlaßt.«
Cathérine konnte ein bitteres Lachen nicht zurückhalten.
»Vielen Dank für das Kompliment. Setzt Euren frommen Weg also ruhig fort, Messire Bohat, aber wißt, daß die für einen Augenblick abgewendeten Gefahren wiederkommen können, wenn man nicht in sich selbst die Kraft findet, sie zu beseitigen, irgend etwas sagt mir, daß wir uns wiedersehen werden. Und sei es in Compostela!«
Diesmal antwortete Gerbert nicht. Aber er bekreuzigte sich so überstürzt und mit so echtem Schreck, daß Cathérine ihm trotz ihres Zorns ins Gesicht lachen mußte. Ermengarde, inzwischen ungeduldig geworden, hatte Catherines Zügel ergriffen und zog sie unwiderstehlich auf den Weg.
»Das genügt, meine Liebe. Kommt jetzt!«
Cathérine folgte gehorsam ihrer Freundin und setzte sich, ihr Pferd anspornend, in Trab, um über die kleine Ebene zu sprengen, die sich vor ihr dehnte, bevor sie von neuem ins Tal des Lot abfiel. Der Regen hatte wieder eingesetzt, aber sachte, langsam, wie schweren Herzens, zu unauffällig, um wirklich beschwerlich zu sein. Cathérine betrachtete mit einer Art von Begeisterung den freien, offenen Raum vor sich. Die Lust überkam sie, ihrem Pferd die Sporen zu geben, es in Galopp zu setzen, um den vertrauten Rausch des Wettlaufs mit dem Wind wieder zu erleben, aber das Gewicht und das noch kranke Bein Ermengardes gestatteten diese Gangart nicht. Sie mußte sich noch ziemlich lange damit begnügen, in gemäßigtem Trott dahinzureiten.
Hinter den Reitern erscholl ein Lied, dessen Echo ihnen vom Südwind zugetragen wurde:
»Maria, Stern des Meeres, klarer als die Sonne, auf diesem finsteren Weg führe uns: Ave Maria …«
Cathérine preßte die Zähne zusammen, drückte instinktiv ihrem Pferd die Knie in die Flanken. Sie hatte den absurden Eindruck, daß dieses Lied sie auf seine Weise noch mehr außerhalb des frommen Haufens stellte. War es, um sich vor der Behexung zu schützen, deren sie sie für fähig hielten, daß die Pilger so leidenschaftlich Unsere Liebe Frau anriefen?