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»Ich dachte, Ihr schlaft!« sagte sie.

»Das dachten andere auch! Dame Ermengarde und Euer Freund, der Herr Maler! Sie nahmen sich nicht vor mir in acht! Und obgleich sie leise sprachen, habe ich sie verstanden …«

»Was sagten sie?«

»Sie wollten Euch, sobald alles im Rasthaus schläft und Ihr selbst Euch zur Ruhe gelegt habt, gewaltsam nach Burgund entführen!«

»Was?« hauchte Cathérine verblüfft. »Sie wollen mich … gewaltsam … entführen? Das ist ja ungeheuerlich!«

»Nein«, entgegnete Josse und lächelte sein seltsames Lächeln bei geschlossenen Lippen. »Genaugenommen ist es sogar eine freundliche Geste! Zuerst glaubte ich, sie hätten böse Absichten … wollten Euch vielleicht töten, und beinahe hätte ich nicht weiter zugehört. Aber das ist es nicht. Sie wollen Euch entführen, um Euch vor Euch selbst zu retten, gegen Euren Willen. Sie kennen Euch gut und befürchten, daß Ihr beschließt, direkt nach Granada zu reisen, wo Euch ihrer Meinung nach nur ein schrecklicher Tod ereilen würde.«

»Sie brauchen nur mitzukommen«, gab Cathérine trocken zurück. »Das würde die Gefahr vermindern. Selbst ein maurischer Fürst dürfte es sich zweimal überlegen, bevor er einen Botschafter Burgunds massakrieren läßt …«

»Der übrigens nichts bei ihm zu suchen hätte! Ich glaube nicht, daß Euer Freund ohne Anweisung seines Herrn derlei riskieren würde. Nein, Dame Cathérine. Wenn Ihr nicht nach Dijon zurückkehren wollt, wenn Ihr ihnen entwischen wollt, dann müßt Ihr fliehen … und zwar schnell!«

Einen Augenblick musterte Cathérine die unregelmäßigen Züge ihres merkwürdigen Dieners. Mißtrauen schlich sich in ihre Gedanken. Diese Geschichte – sie konnte nicht daran glauben. Sie kannte Ermengarde und Jan schon zu lange, um für möglich zu halten, daß sie ihr Gewalt antun wollten. Und was diesen Burschen da vor ihr betraf, war er alles in allem ein nicht sehr achtbarer Landstreicher, und sie wußte herzlich wenig über ihn, außer daß er flinke Finger besaß und ein sehr dehnbares Gewissen. Sie sprach ihre Gedanken ohne Umschweife aus.

»Welchen Grund sollte ich haben, Euch zu glauben? Sie sind meine Freunde, alte und treue Freunde, während …«

»Während ich nur ein Straßendieb, ein kleiner Pariser Herumtreiber bin, der nichts taugt, nicht wahr? Hört zu, Dame Cathérine. Zweimal habt Ihr mich gerettet, das erstemal unbewußt, zugegeben, aber das zweitemal sehr bewußt. Ohne Euch wäre ich im Begriff, am Galgen des Abtes von Figeac zu verfaulen. Im Hof der Wunder, bei den Gaunern und Bettlern, sind das Dinge, die man nicht vergißt. Auch wir haben einen Ehrbegriff, auf unsere Art …«

Cathérine antwortete nicht sofort. Josse konnte den Widerhall nicht ahnen, den seine Worte in ihr weckten, konnte nicht wissen, daß auch sie einmal ihr Leben und ihre Sicherheit diesem selben Hof der Wunder verdankt hatte, von dem er sprach … Schließlich sagte sie:

»Und um Eure Schuld zu begleichen, drängt Ihr mich nun, mit Euch nach Granada aufzubrechen? Ihr wißt doch, daß ich dort Schlimmeres als den Tod riskiere.«

»Nun«, meinte Josse kalt, »wenn Ihr sterbt, dann nur, weil ich vor Euch tot sein werde! … Die Zeit eilt, Dame Cathérine, entscheidet Euch! Entweder glaubt Ihr mir, und wir brechen auf, oder Ihr glaubt mir nicht … und Ihr werdet ja sehen. Ich kenne Spanien ein wenig … war schon einmal da. Ich kenne auch die Sprache ein wenig. Ich kann Euch als Führer dienen!«

»Könntet Ihr mir auch nach Burgund folgen? Das wäre zweifellos angenehmer!«

»Ich glaube nicht. Diese Leute, die Euch vor Euch selbst retten wollen, erweisen Euch einen schlechten Dienst. Sie wissen nicht, daß Ihr nicht glücklich sein könntet mit einer Reue, mit dem Bedauern im Herzen, nicht ausgeführt zu haben, was Ihr Euch vornahmt! Ich ziehe vor, Euch in die Gefahr stürzen zu sehen und sie mit Euch zu teilen, weil Ihr wie ich seid! Ihr gebt nie auf. Und ich halte Euch für fähig, die größten Schwierigkeiten und Gefahren zu überwinden. Ich weiß sehr wohl, was wir riskieren werden, Ihr und ich: die Sklavenpeitsche, den Tod, die Folter – und für euch, da Ihr eine Frau seid, noch mehr … aber ich glaube, es lohnt sich, das Abenteuer zu wagen und zu erleben. Ihr findet vielleicht Euren Gatten wieder, und ich treffe vielleicht auf das Glück, das mir noch nicht hold war. Es heißt, das Königreich Granada sei reich … Also? … Reiten wir? Die Pferde sind gesattelt und warten unter dem Gewölbe!«

Eine leise Hoffnung richtete Cathérine auf! Allein dieser Bursche hatte die richtigen Worte gefunden, den Zuspruch, den sie brauchte. Er war tapfer, intelligent, gewandt … Er wollte ihr helfen! Nein! Sie würde sich nicht wie ein hübsches, mit Goldfäden umwickeltes Paket Philippe von Burgund ausliefern lassen, nur weil zwei wohlgesonnene Narren glaubten, dies sei das beste Mittel, ihr zum Glück zu verhelfen! Sie warf Josse einen funkelnden Blick zu.

»Reiten wir! Ich bin bereit …«, rief sie hingerissen.

»Einen Augenblick!« sagte er, ihr das Bündel reichend. »Hier sind Männerkleider, die ich einem Soldaten gestohlen habe. Zieht sie an, und packt die Euren ein. Wir werden sie mitnehmen. Aber macht schnell … So wird man uns schwerer verfolgen können!«

Begierig griff sie nach den Kleidern, befahl Josse, Wache zu stehen, trat hinter einen Strebepfeiler und zog sich um, ohne sich um die Kälte zu kümmern. Ein wunderbarer Tatendrang feuerte sie an … In dem Augenblick, in dem sie zum Kampf antrat, konnte sie ihren ganzen Kummer vergessen! Es würde noch Zeit genug sein, sich ihm zu überlassen, wenn sie scheiterte, aber diesen Gedanken wollte sie gar nicht erst in sich aufkommen lassen, keinen Augenblick!

Und plötzlich glaubte sie, aus dem Dunkel der Zeit eine dünne, lispelnde Stimme flüstern zu hören:

»Wenn du eines Tages einmal nicht mehr weiterweißt, komm zu mir. Vor meinem kleinen Haus am Rande des Genil blühen die Zitronen- und Mandelbäume von ganz allein, und die Rosenstöcke duften den größten Teil des Jahres. Du wirst meine Schwester sein, und ich werde dich die Weisheit des Islams lehren …«

Seltsamer, getreulicher Spiegel der Erinnerung! Der Eindruck war so deutlich, daß Cathérine plötzlich vor sich die zarte Gestalt eines jungen Mannes in einer weiten blauen Robe, mit einem absurd weißen Bart und einem gewaltigen orangefarbenen Turban in Form eines riesigen Kürbisses zu sehen glaubte. Sein Name kam ihr ganz natürlich von den Lippen:

»Abu! … Abu al-Khayr! … Abu, der Arzt!«

Sie mußte schon sehr tief in ihrem Schmerz befangen gewesen sein, daß sie nicht schon früher an ihn gedacht hatte. Abu, ihr alter Freund, lebte in Granada! Er war der Arzt und Freund des Sultans! Er würde schon wissen, was zu tun war, und würde ihr helfen, dessen war sie sicher!

Von plötzlicher Freude durchdrungen, zog Cathérine sich eiligst an, wickelte ihre Kleider zu einem Bündel zusammen, das sie unter den Arm nahm, und trat wieder zu Josse.

»Brechen wir auf«, sagte sie, »brechen wir schnell auf!«

Er sah sie an, verblüfft über ihre in so wenigen Augenblicken bewirkte Verwandlung, und konnte sich nicht enthalten zu sagen: »Wahrhaftiger Gott! Dame Cathérine, ihr seht aus wie ein Kampfhahn!«

»Wir werden ja kämpfen, mein Freund, mit allen Waffen, mit allen Listen und Tücken, die sich uns bieten! ich will meinen Gatten dieser Frau entreißen, oder ich werde mein Leben verlieren! Zu Pferd!«

Wie Schatten glitten Cathérine und Josse aus dem Klostergang hinaus. Die einzige Gefahr bestand in der Durchquerung des großen Saals, aber das Feuer war schon heruntergebrannt. Es gab ausgedehnte dunkle Stellen … Während sie sich mit der Vorsicht einer Katze zwischen den ausgestreckten Körpern hindurchwand, warf Cathérine, durch ihre Verkleidung gut geschützt, einen Blick zum Feuerherd hinüber. Jan van Eyck stand aufrecht davor, das Gesicht zur Glut gewandt, und unterhielt sich leise, aber lebhaft mit Ermengarde. Wahrscheinlich besprachen sie ihren Plan … Cathérine konnte sich eines Lächelns nicht enthalten und sandte ihnen ein spöttisches, stummes Lebewohl hinüber.