Von der bedachten Hand Hans' geführt, kam sie bis zu dem durchbrochenen Geländer des Turms und beugte sich vor. An dem dicken Tau der Winde aufgehängt, pendelte ihr der Käfig sanft entgegen, genau unter ihr. Zwischen den Bohlen, aus denen er bestand, konnte sie den Gefangenen sehen. Mit erhobenem Kopf betrachtete er den Himmel, aber eine unaufhörliche Klage entrang sich seinen Lippen, so schwach, daß Cathérine vor Qual schauderte. Sie wandte Hans einen flehentlichen Blick zu.
»Man muß ihn hochziehen, ihn aus diesem Käfig herausholen, und das sofort! Er ist verwundet!«
»Ich weiß, aber es ist nicht möglich, ihn heute nacht hochzuziehen. Die Winde knarrt fürchterlich. Wenn ich versuchte, sie in Betrieb zu setzen, würde ich die Aufmerksamkeit der Soldaten wecken. Wir würden nicht weit kommen.«
»Könntet Ihr nicht dafür sorgen, daß sie nicht knarrt?«
»O ja. Man müßte sie einfetten und ölen, aber das kann man nicht in dunkler Nacht bewerkstelligen. Außerdem, wie ich Euch schon sagte, muß die Flucht dieses Mannes gut vorbereitet werden. Im Augenblick werden wir versuchen, ihm zu helfen. Ruft ihn an … aber leise. Wir dürfen die Soldaten nicht aufmerksam machen.«
An Josses Gürtel geklammert, beugte Cathérine sich vor, bis sie beinahe das Gleichgewicht verlor, und rief leise:
»Gauthier! … Gauthier! … Ich bin's! Cathérine …«
Der Gefangene drehte langsam den Kopf zu ihr, aber nichts in seinem Verhalten deutete auf Überraschung hin.
»Ca…thé…rine?« sagte er mit einer Stimme, die aus einem Traum zu kommen schien. Und dann nach einem Augenblick, währenddessen die junge Frau ihre eigenen Herzschläge zählen konnte: »Ich habe Durst!«
Catherines Herz krampfte sich vor Kummer zusammen. War er bereits so schwach, daß die Worte ihn nicht mehr erreichten, daß er sie nicht mehr verstehen konnte? Sie unternahm noch einmal einen verzweifelten Versuch.
»Gauthier! Ich flehe dich an! Antworte mir! Sieh mich an! ich bin Cathérine de Montsalvy!«
»Wartet einen Augenblick«, flüsterte Hans, sie zurückziehend. »Geben wir ihm zuerst zu trinken. Dann werden wir sehen!«
Flink befestigte er den schmalen Hals des Krugs an einer langen Holzstange, die er über das Geländer schob und langsam in der, Käfig hinunterließ, bis der Krug die Hände des angebundenen Mannes berührte, der, die Augen noch immer erhoben, nichts zu sehen schien.
»Da, Freund!« befahl er. »Trinke!«
Die Berührung des irdenen Wassertopfes schien bei dem Gefangenen eine wahre Erschütterung hervorzurufen. Er ergriff ihn mit einem dumpfen Brummen und begann gierig zu trinken, in großen Schlucken, wie ein Tier an der Tränke. Der Krug wurde bis auf den letzten Tropfen geleert. Als nichts mehr drin war, ließ Gauthier ihn los und schien wieder in seine Erstarrung zurückzufallen. Cathérine murmelte bedrückt:
»Er erkennt mich nicht! Er scheint nur zu hören.«
»Das ist zweifellos das Fieber«, erwiderte Elans. »Er hat eine Kopfverwundung. Versuchen wir jetzt, ihn zu bewegen, etwas zu essen.«
Die kräftigende Nahrung hatte denselben Erfolg wie das frische Wasser, aber der Gefangene blieb gegenüber den Rufen und flehentlichen Bitten Catherines nicht weniger taub. Er hob die Augen zu ihr auf, sah sie an, als wäre sie durchsichtig, und wandte sich dann ab.
Von seinen Lippen drang eine Art monotonen Gesangs, langsam, undeutlich und unbewußt halb gesprochen, der Cathérine in Schrecken versetzte.
»Mein Gott! … Ist er wahnsinnig?«
»Das glaube ich nicht«, erwiderte Hans ermutigend, »aber ich sagte Euch ja: Er muß im Delirium sein. Kommt, Dame Cathérine, im Augenblick könnt Ihr nichts mehr für ihn tun. Wir gehen jetzt zurück. Morgen, im Laufe des Tages, werde ich Mittel und Wege finden, die Winde zu schmieren, damit sie nicht mehr knarrt. Morgen nacht können wir ihn vielleicht hochziehen.«
»Aber werden wir es überhaupt fertigbringen, ihn aus der Stadt herauszuschmuggeln? Die Tore scheinen stark und gut bewacht.«
»Alles zu seiner Zeit! Auch da habe ich eine Idee …«
»Mit einem guten Seil«, meinte Josse, der seit dem Betreten der Kirche kein Wort gesprochen hatte, »kann man sich immer an einem Wall hinunterlassen.«
»Jawohl … schlimmstenfalls! Aber ich habe vielleicht einen besseren Gedanken. Ein Baumeister lernt vieles, einfach dadurch, daß der die Augen aufmacht. Also, jetzt müssen wir wieder hinunter.«
Nach einem letzten Blick auf den Mann im Käfig ließ Cathérine sich zur Treppe führen. Im dunklen Schiff der Kathedrale sprachen die Mönche immer noch ihre Gebete. Sie hatten nicht einmal geahnt, daß die drei vorübergegangen waren. Die Pforte schloß sich geräuschlos. Cathérine und die beiden Männer befanden sich abermals auf der Straße.
Als man die Werkstatt wieder erreicht hatte, erteilte Hans seinen Gästen einige Ermahnungen.
»Für jedermann hier werdet Ihr Verwandte von mir sein, die sich auf dem Weg nach Compostela befinden. Trotzdem vermeidet, Euch unter meine Arbeiter zu mischen. Einige stammen aus meinem Vaterland und würden sich wundern, daß Ihr unsere Sprache nicht kennt. Sonst könnt Ihr kommen und gehen, wie es Euch gutdünkt.«
»Vielen Dank«, entgegnete Cathérine, »aber ich habe keine Lust dazu. Der Anblick dieses scheußlichen Käfigs macht mich ganz krank. Ich werde zu Hause bleiben.«
»Ich nicht!« sagte Josse. »Wenn es eine Flucht vorzubereiten gilt, muß man Augen und Ohren offenhalten.«
Der darauffolgende Tag war entsetzlich für Cathérine. In das Haus eingeschlossen, zwang sie sich, nicht nach draußen zu blicken, um den kalten Regen nicht zu sehen, der den ganzen Tag über fiel, und die Haßschreie und Verwünschungen nicht hören zu müssen, die sich von Zeit zu Zeit erhoben und deren Ziel sie nur zu gut erriet. Sie blieb den ganzen Tag allein, sah man von der alten Urraca ab, einer Gefährtin, die nichts Tröstliches an sich hatte. Gelegentlich entrangen sich den eingefallenen Lippen der Frau Worte, die Cathérine nicht verstehen konnte.
Urraca ging in die Küche und kam wieder, sprach vor sich hin, wie dies bei Tauben häufig der Fall ist, und ging ihrer Arbeit mehr oder weniger mechanisch nach.
Zur Mahlzeit schob sie Cathérine einen Teller mit halbgaren Blätterteigkuchen und einen Krug klares Wasser hin, kehrte dann wieder auf ihren Hocker neben dem Faß zurück, von wo aus sie die junge Frau mit einer Aufmerksamkeit musterte, die diese zur Verzweiflung brachte. Cathérine drehte ihr schließlich den Rücken zu und setzte sich unter die Galerie des Innenhofs, um dort die Rückkehr der Männer zu erwarten. Josse war gleichzeitig mit Hans fortgegangen.
Er wollte einen Rundgang durch die Stadt machen, um sich zu informieren, wie er gesagt hatte.
Als er im Laufe des Nachmittags zurückkam, war sein Gesicht ernst. Auf Catherines angstvolle Fragen antwortete er zunächst nur mit einem Schulterzucken.
»Die Entführung wird nicht leicht sein«, sagte er schließlich. »Ich glaube sogar, daß es zu einem Aufruhr kommen könnte. Die Leute hier sind wie losgelassene wilde Tiere. Sie verabscheuen die Briganten von Oca derart, daß sie sich an dem Gedanken geradezu weiden, einen von ihnen hier gefangenzuhalten. Wenn man ihnen ihre Beute entreißt, werden sie alles kaputtschlagen!«
»Na und, sollen sie doch!« rief Cathérine. »Was macht mir das aus? Sind wir etwa aus diesem Land? Das einzig Wichtige ist das Leben Gauthiers …«
Josse warf ihr einen kurzen Blick von unten her zu.
»Liebt Ihr ihn so sehr?« fragte er mit einem leichten Anflug von Spott, der der jungen Frau nicht entging. Sie senkte ihren blauen Blick geradewegs in die Augen des ehemaligen Landstreichers und sagte hoheitsvolclass="underline"
»Gewiß, ich liebe ihn … ich liebe ihn, als wäre er mein Bruder … oder mehr. Er ist nur ein Bauer, aber sein Herz, seine Tapferkeit und Treue machen ihn würdiger, die goldenen Sporen zu tragen, als ein Adliger. Und wenn Ihr hofft, mich zu überreden, die Stadt zu verlassen und ihn diesen Tieren auszuliefern, dann habt Ihr Eure Mühe verschwendet. Und wenn ich mein Leben dabei verlieren sollte, werde ich versuchen, ihn zu retten.«