»Aber was ist denn los?«
»Keine große Sache: eine Art kleine Revolution! Ich werde es dir erklären. Auf jeden Fall hat unser Kalif im Augenblick andere Sorgen. Komm, jetzt ist der richtige Augenblick. Niemand beschäftigt sich mit uns.«
In der Tat, auf dem Platz herrschte die größte Verwirrung. Man schlug aufeinander ein. Die Menge der Frauen, Kinder, Possenreißer, Greise und kleinen Händler floh in alle Richtungen, versuchte, nicht immer mit Erfolg, den Hufen der aufgeregten Gäule auszuweichen. Die Palastwachen waren in ein Handgemenge mit einem Trupp schwarzgekleideter und verschleierter Reiter geraten, der plötzlich, niemand wußte, woher, aufgetaucht war. Auch auf den Tribünen schlug man sich, und Cathérine konnte sehen, daß Mohammed tapfer seinen Part in diesem kriegerischen Konzert spielte. Todesröcheln mischte sich mit Wutschreien, mit dem Stöhnen Verwundeter. Die schwarzen Vögel am malvenfarbenen Himmel hatten ihre Kreise verengt und flogen jetzt tiefer.
Der Mittelpunkt des Wirbels, der Befehlshaber der schwarzen Reiter, um den sich einige verschleierte Männer geschart hatten, die bis dahin teilnahmslos in der Menge gestanden hatten, war ein großer, hagerer Mann dunkler Hautfarbe, auch schwarz gekleidet, aber mit unverhülltem Gesicht und einem fabelhaften Rubin am Turban. Sein Krummschwert sauste nach allen Seiten, schlug Köpfe ab wie die Sense des Schnitters die Ähren des Korns. Das letzte, was Cathérine noch sehen konnte, während Abu al-Khayr sie mitzog, nachdem er sie auf ein Pferd gesetzt hatte, war der Tod des Großwesirs. Das Krummschwert des Reiters schnitt ihm den Kopf ab, der einen Augenblick später am Sattel seines Besiegers hing. Auf der königlichen Moschee der Alhambra schlugen Allahs Trommeln immer noch …
Die Stadt war wahnsinnig geworden. Während Abu al-Khayr, der auch ein Pferd bestiegen hatte, ihren Weg durch die weißen Gassen mit den blinden Mauern verfolgte, konnte Cathérine Szenen sehen, die sie an das Paris ihrer Kindheit erinnerten. Überall schlugen sich die Menschen, überall rann Blut. Es war gefährlich, unter einem Flachdach durchzureiten, denn es regnete Wurfgeschosse jeder Art, und manchmal löste sich aus der rasenden Menge die unheimliche Gestalt eines der fremden verschleierten Reiter. Ein Krummschwert blitzte dann unter den Öllampen auf, denn die Nacht brach an, und es folgte ein Todesschrei. Aber Abu al-Khayr hielt nicht an.
»Beeilen wir uns«, sagte er immer wieder. »Es kann sein, daß die Stadttore früher geschlossen werden.«
»Wohin führst du mich denn?« fragte Cathérine.
»Wohin der Riese deinen Gatten geführt haben muß. In den Alkazar Genil, zu der Sultanin Amina.«
»Aber warum?«
»Nur noch etwas Geduld. Ich sagte dir doch, daß ich es dir erklären werde. Schneller, schneller! …«
Der Höllenlärm, die Schreie, die Gefahr schienen die tiefe Freude, die Cathérine empfand, nicht dämpfen zu können! Sie war frei, Arnaud war frei! Das ganze Szenarium der Hinrichtung war verschwunden, und der muntere Schritt des Pferdes war im Gleichklang mit den freudigen Schlägen ihres Herzens! Schließlich fielen sie in Galopp, ohne sich darum zu kümmern, wen sie niederritten. Das Südportal, das glücklicherweise noch offen war, wurde in sausendem Galopp durchritten, dann klapperten die Hufe der Pferde auf der kleinen römischen Brücke, die über die schäumenden, klaren Wasser des Gebirgsbaches führte. Bald tauchte neben der weißen Kuppel einer kleinen Moschee ein breiter Wall aus Blattwerk auf, der eine Art Turm mit einem Aufsatz und zwei Pavillons sowie einen Portalvorbau aus schlanken Säulchen umschloß. Phantomhafte Gestalten, wahrscheinlich die Wachen, schritten vor dem Portal auf und ab, das sich sofort öffnete, als Abu al-Khayr, die Hände zum Sprachrohr um den Mund gewölbt, einen eigenartigen Ruf ausstieß. Ohne die Geschwindigkeit zu verlangsamen, sprengten die beiden Pferde und ihre Reiter durch das Portal und kamen erst vierzig Fuß dahinter vor blühenden Jasminbüschen zum Stehen. Hinter ihnen wurden die schweren Türen des Landsitzes wieder zugestoßen und versperrt.
Als Cathérine sich vom Pferd gleiten ließ, landete sie beinahe in den Armen Gauthiers. Er packte sie und hob sie hoch empor, von so heftiger Freude ergriffen, daß er seine übliche Zurückhaltung vergaß.
»Am Leben!« rief er. »Und frei! … Odin und der siegreiche Thor seien gelobt, die Euch uns wiedergegeben! Seit Tagen leben wir schon nicht mehr!«
Sie jedoch konnte ihre Ungeduld und Unruhe nicht zügeln.
»Arnaud? Wo ist er?«
»Ganz nahe. Man pflegt ihn …«
»Er ist nicht …« Sie wagte nicht fortzufahren. Sie sah wieder Gauthier, wie er die Pfeile aus den durchbohrten Händen riß und das Blut sprudelte, sah den reglosen Körper, den der Normanne sich über die Schulter warf.
»Nein. Er ist durch den Blutverlust natürlich geschwächt. Maître Abus Pflege wird sehr willkommen sein.«
»Gehen wir hin!« sagte der Arzt, dessen Turban, als er von seinem Riesenroß heruntergepurzelt war, gefährlich aus dem Gleichgewicht geraten war. Er nahm Cathérine an der Hand und folgte Gauthier durch einen riesigen, mit herrlichen Intarsienarbeiten Tausender leuchtender Blumen verzierten Saal und durch eine Galerie mit kleinen gewölbten Fensteröffnungen. Die Schwarzen Marmorfliesen schimmerten wie ein nächtlicher Weiher um das vielfarbige Inselmeer der dicken Teppiche. Dahinter öffnete sich ein kleinerer Raum. Dort lag Arnaud auf einer Seidenmatratze, neben ihm standen eine unbekannte Frau und Josse, der sich, immer noch in seiner militärischen Kleidung, über ihn beugte. Als der Pariser Cathérine kommen sah, lächelte er ihr breit zu, aber Cathérine ließ sich, ohne ihm oder der Frau Beachtung zu schenken, neben ihrem Gatten auf die Knie fallen.
Er war ohne Bewußtsein, seine Züge waren abgespannt und sehr blaß, und unter seinen geschlossenen Augen lagen tiefe Ringe. Das Blut von seinen verwundeten Händen hatte die mandelgrüne Seide der Matratze und den dicken Teppich des Bodens befleckt, lief aber nicht mehr. Der Atem ging kurz, schwach.
»Ich glaube, daß er leben bleiben wird!« sagte neben Cathérine eine ernste Stimme. Als die junge Frau den Kopf wandte, traf sie auf einen dunklen, tiefen Blick, der ihr unergründlich schien. Als sie die Frau ansah, die das Wort an sie gerichtet hatte, bemerkte sie, daß sie jung und sehr schön war, mit einem Gesicht, dessen Armut den Stolz nicht ausschloß, auf dessen goldfarbene Haut aber fremdartige dunkelblaue Zeichen gemalt waren. Catherines Überraschung erratend, lächelte die Frau sie kurz an.
»Alle Frauen des Großen Atlas sehen so aus«, sagte sie. »Ich bin Amina. Komm mit mir. Wir müssen den Arzt mit den Verwundeten allein lassen. Abu al-Khayr läßt sich nicht gerne von Frauen bei seiner Arbeit stören.«
Cathérine mußte lächeln. Nicht nur, weil Aminas Liebenswürdigkeit ansteckend war, sondern weil ihre Worte sie an ihre erste Begegnung mit dem kleinen maurischen Arzt erinnerten, in dem Wirtshaus an der Straße von Péronne, als er Arnaud, den Cathérine und ihr Onkel Mathieu am Straßenrand verwundet angetroffen hatten, zum erstenmal behandelt hatte. Sie kannte das außerordentliche Geschick ihres Freundes. So ließ sie sich widerstandslos fortführen, um so mehr, als Gauthier ihr erklärte:
»Ich bleibe bei ihm …«
Die beiden Frauen setzten sich an den Rand des schmalen Wasserlaufes, der sich durch den Garten schlängelte. Zwei Rosenbeete säumten ihn, und kleine Springbrunnen plätscherten da und dort, so eine köstliche Frische erzeugend, in der sich die Müdigkeit und Hitze des Tages verflüchtigten. Seidenkissen, in den Farben der Blumen ausgewählt, waren auf dem steinernen Brunnenrand neben goldbronzenen Lampen und großen goldenen Tabletts mit Feingebäck und Früchten aller Art aufgehäuft. Amina lud Cathérine ein, neben ihr Platz zu nehmen, nachdem sie mit einem kurzen Wort ihre Frauen entlassen hatte, deren zarte Schleier langsam im Haus oder im Schatten des Gartens verschwanden.
Längere Zeit schwiegen die beiden Frauen. Erschöpft von dem, was sie erlebt hatte, genoß Cathérine unbewußt den Frieden, von dem dieser schöne Garten erfüllt war, die Heiterkeit und Ruhe, die von der neben ihr sitzenden Frau ausgingen. Nach den grausamen Qualen, nachdem sie hundertmal geglaubt hatte, vor Angst, Kummer und Schmerz sterben zu müssen, kam Arnauds Frau sich wieder wie im Paradies vor. Der Tod, die Angst, selbst die Unruhe waren verflogen. Gott konnte Arnaud nicht so wunderbar gerettet haben, um ihn sogleich wieder zu sich zu holen. Man würde ihn heilen, ihn retten … Dessen war sie sicher!